Textilindustrie: Warenvernichtung aus dem entgangenen Wintergeschäft droht
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Die Regeln für Corona-Überbrückungshilfen begünstigen unter Umständen, dass Neuware vernichtet wird. Die Gelder müssen anders fließen – und die Textilbranche endlich umkrempeln.
Es mutet absurd an, dass neuwertige Kleidungsstücke derzeit vielerorts als verderbliche Ware bezeichnet werden. Für viele Inhaber:innen von Bekleidungsgeschäften ist das allerdings eine Realität, mit der sie sich auseinandersetzen müssen: Ein Wintermantel, der während der Geschäftsschließungen im Januar nicht verkauft werden konnte, ist im April kaum noch an den Mann oder die Frau zu bringen – oder nur als Verlustgeschäft. Einlagern bis zur nächsten Saison wäre eine Lösung, aber die braucht Geld und Platz – und verschiebt mitunter nur das Problem: Die nächste Winterkollektion wartet bereits.
Vor der anderen, auch bei den meisten Unternehmer:innen unpopulären Lösung warnt Greenpeace seit Monaten: die Entsorgung der im Lockdown aufgetürmten Klamottenberge, insgesamt wohl mehr als 500 Millionen Kleidungsstücke. Eigentlich will das niemand – doch die gesetzliche Lage ist verfahren, und unter gewissen Voraussetzungen kann es für Unternehmen, die wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand stehen, genau dafür finanzielle Anreize vom Staat geben.
Denn Erstattungen aus den Corona-Hilfsprogrammen des Bundeswirtschaftsministeriums gibt es nur dann, wenn Unternehmen ihre voraussichtlichen Verluste glaubhaft beziffern können – also wenn sie durch den Verkauf der liegengebliebenen Ware nachweislich weniger einnehmen als sie dafür ausgegeben haben. Für Händler:innen, die dringend Geld benötigen, um ihr Geschäft zu retten, gäbe es in Einzelfällen die Möglichkeit, die Winterware komplett abzuschreiben und zu entsorgen – dieses Verlustgeschäft ließe sich dann über Gelder aus der sogenannten Überbrückungshilfe III ausgleichen, so der Steuerberater Klaus Esch in einem Interview mit dem Fachmagazin “Textilwirtschaft”.
Ressourcenverschwendung darf sich nicht rentieren
Damit würde der Gesetzgeber über Umwege Warenvernichtung belohnen. “So eine Empfehlung zu geben, ist natürlich abstrus”, sagt Viola Wohlgemuth, Greenpeace-Expertin für Konsum. “Aber genau dazu regt die Regierung mit ihrem Erstattungsangebot an.” In einer Umfrage der “Textilwirtschaft” gaben neun Prozent der befragten Händler:innen an, dass sie wohl Kleidungsstücke aus dem Wintergeschäft entsorgen werden müssen – die Konsequenz einer Fast-Fashion-Produktionsmaschine, die wenig Rücksicht auf den tatsächlichen Bedarf nimmt, sondern mit schnell wechselndem Angebot auf maximalen Umsatz zielt. “Die Dunkelziffer dürfte sogar höher liegen”, befürchtet Wohlgemuth. “Bei Altkleidern geht mehr als die Hälfte in den Schredder oder in die Verbrennung, ähnliche Größenordnungen sind auch hier zu befürchten.” Es wird einfach zu viel produziert.
Die Sachen zu spenden ist allerdings eine Scheinlösung, die nur das Symptom bekämpft, aber nicht das zugrundeliegende Problem der massenhaften Produktion von Waren, die niemand benötigt – die Altkleidersammlungen etwa sind bereits gut gefüllt. Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat angekündigt, die Umsatzsteuerpflicht für Sachspenden vorübergehend aussetzen zu wollen – mit durchaus gutem Grund: Aufgrund der deutschen Gesetzgebung ist es mitunter billiger, Waren zu vernichten als sie zu spenden. Doch wenn Spenden das neue Vernichten wird, ist das Überproduktionsproblem der Industrie nicht gelöst – Greenpeace fordert darum eine Andienungspflicht, die vorsähe, dass Unternehmen ihre überschüssige Ware kostenpflichtig an zugelassene Stellen abgeben – eine Art "Tafel" für Textilien. Das würde rücksichtslose Massenproduktion letztlich verteuern und für einen bedarfsgerechter aufgestellten Markt sorgen.
Kein Geld für gestern!
Der Staat darf die drohende Warenzerstörung nicht belohnen. “Das ist ein komplett falscher Umgang mit Corona-Hilfsgeldern”, so Wohlgemuth. Bereits im Frühjahr vergangenen Jahres forderte Greenpeace, dass Hilfsgelder für die von der Krise gebeutelte Wirtschaft an Nachhaltigkeitskonzepte geknüpft sein müssen. Statt Vernichtung zu vergüten, muss mit den Finanzspritzen der Umbau der Textilbranche, mit all ihren gerade offen zu Tage tretenden Fehlentwicklungen, endlich angegangen werden: “Textilhandel muss zu Textildienstleistung werden.”
Das heißt: Händler:innen sollen vom Staat ermutigt werden, ihr Geschäftsmodell auf Tauschen und Leihen auszuweiten. Förderprogramme wie das in Wien, bei dem Bürgerinnen und Bürgern mit einem Bon kleinere Reparaturen zur Hälfte der Stadt in Rechnung stellen können, sind auch hier umsetzbar und führen zu mehr Nachhaltigkeit und Wertschätzung von Gebrauchsgegenständen. Grundsätzlich muss ein Umbau der gesamten Industrie geschehen, hin zu besserer Qualität, die mehr kostet – und entsprechend nachhaltige und langlebige Kleidungsstücke hervorbringt.
Als erstes umzusetzen wäre allerdings: Die Einlagerung von Beständen, um sie zu einem späteren Zeitpunkt zu verkaufen, muss vom Staat finanziell belohnt werden – nicht deren Entsorgung.