Radioaktive Belastungen in der Umgebung des Kernforschungszentrums Tuwaitha südöstlich von Bagdad
- Hintergrund
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Am 21. Mai 2003, sechs Wochen nach Übernahme der Kontrolle im Land durch die Truppen der Besatzungsmächte, haben die USA der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) zwar endlich erlaubt, in den Irak zurückzukehren und zu prüfen, was in einem Teil der Atomanlage von Tuwaitha südöstlich von Bagdad gestohlen worden ist. Der Zugang zu den Bewohnern der Region und zu anderen Atomanlagen ist der IAEO jedoch verweigert worden, was im Widerspruch zu UN-Resolutionen steht.
US-Besatzer behindern IAEO
Die US-Regierung begründet die Weigerung damit, dass das Mandat der IAEO im übrigen Irak erloschen sei, obwohl es in der jüngsten UN-Resolution (1483 vom Mai 2003) eindeutig heißt, der Sicherheitsrat beabsichtige, das Mandat zu gegebener Zeit zu überprüfen. Von einem Erlöschen des Mandats ist dort nicht die Rede.
Die Weigerung der Alliierten, der IAEO den in der vorangegangenen Resolution 1441 garantierten "sofortigen, bedingungslosen und uneingeschränkten Zugang zu ausnahmslos allen, auch unterirdischen, Bereichen, Einrichtungen, Gebäuden, Ausrüstungsgegenständen, Unterlagen und Transportmitteln, die diese zu inspizieren wünscht", zu gewährleisten, stellt einen gravierenden Bruch der Resolution dar.
Das Kernforschungszentrum Tuwaitha
Bei dem in den Sechziger Jahren gebauten Kernforschungszentrum Tuwaitha handelt es sich um einen Komplex mit über hundert Gebäuden, die sich 18 Kilometer südöstlich von Bagdad auf einem Gebiet von ungefähr 56 Quadratkilometer verteilen. Früher waren hier mehrere Forschungsreaktoren in Betrieb. Außerdem wurde hier an der Plutoniumgewinnung, der großtechnischen Erzeugung und Weiterverarbeitung von Uran sowie an einer Reihe von Verfahren zur Uran-Anreicherung gearbeitet.
Ein Teil der Anlage von Tuwaitha wurde 1981 von Israel bombardiert. Aber das Uran blieb dort. Nach dem Golfkrieg von 1991 transportierte die IAEO in Übereinstimmung mit der Resolution 687 des UN-Sicherheitsrats alle bekannten irakischen Bestände an waffenfähigem Kernmaterial ab. Die übrigen radioaktiven Stoffe, darunter auch Uran, blieben vor Ort und wurden von der IAEO bis Dezember 2002 einmal im Jahr im Rahmen der Bestimmungen des Atomwaffensperrvertrages kontrolliert.
Bis dahin wurde der größte Teil des gesamten bekannten irakischen Kernmaterials im Kernforschungszentrum Tuwaitha in versiegelten Fässern gelagert. Angaben der IAEO zu Folge handelte es sich um etwa 500 Tonnen so genanntem Yellow Cake, ein uranoxidhaltiges, schwach radioaktives Pulver und 1,8 Tonnen leicht angereichertes Uran sowie verstrahlte Geräte und Instrumente.
Das Nachkriegs-Problem
Als der Irak am 9. April 2003 unter die Kontrolle der USA kam, versäumten es die Besatzungsmächte, Tuwaitha und andere Atomanlagen entsprechend zu sichern. An keinem der Standorte führten die Besatzungstruppen der Sieger eine Bestandsaufnahme des dort befindlichen Materials durch.
Am 10. April, nur einen Tag später, stellte man in Tuwaitha fest, dass die Tür zu einem Lager aufgebrochen worden war. Irgendwann nach dem 11. April forderte die IAEO die Streitkräfte der USA auf, das Lager zu sichern. Doch als am 3. Mai US-Einheiten die Anlage endlich inspizierten, ließen sie laut Washington Post immer noch Dutzende von Arbeitern ein, die mitnehmen konnten, was sie wollten. Seit Kriegsende haben spezielle Atomprogramm-Teams des Pentagon sieben Atomanlagen, die Teil des irakischen Atomprogramms waren, besucht. In allen fanden sich Spuren von Plünderungen.
Strahlende Fässer
{image_r}Einwohner aus der Umgebung von Tuwaitha schleppten Berichten zufolge Fässer mit Kernmaterial (Urankonzentrat) und andere Behälter fort, um darin Lebensmittel, Wasser, Milch und Jogurt aufzubewahren. Sie hätten nicht gewusst, dass die Fässer radioaktiv und giftig waren und sie sich in große Gefahr gebracht haben. Zeugen berichten, sie hätten gesehen, wie die Menschen die Behälter trugen und deren schwach radioaktiven Inhalt auf den Boden oder in das örtliche Wasserversorgungsnetz kippten. Es habe nur wenige Warnhinweise für die Bevölkerung vor Ort gegeben und diese auch nur auf Englisch. Ein Teil des geplünderten Materials werde inzwischen zur nahe gelegenen Moschee gebracht. Dort wird es zwar gesammelt, aber nicht in geeignete Behälter gefüllt.
Mediziner sind beunruhigt
Die Ärzte der Region Tuwaitha sind beunruhigt, weil die Menschen Symptome von Strahlenkrankheit zeigen wie Blutungen und Erbrechen. Sie gehen davon aus, dass es in den nächsten Monaten zu Krebserkrankungen kommen wird. Der Leiter einer in der Nähe gelegenen Klinik, Dr. Jaafar Nasser Suhayb sagt, er habe in fünf Tagen ungefähr zwanzig Patienten aus der Umgebung von Tuwaitha behandelt, die ähnliche Symptome aufwiesen: Atemnot, Übelkeit, schweres Nasenbluten und juckenden Ausschlag. Suhayb befürchtet, dass die Menschen an der Strahlenkrankheit leiden, weil einige der Symptome mit denen eines akuten Strahlensyndroms übereinstimmen.
IAEO will Inspektion
{image}Seit April äußert sich die IAEO besorgt über die Umweltverseuchung sowie die Gesundheit und Sicherheit der Menschen, die in der Nähe der Atomanlagen leben. Die Organisation hat verlangt, dass ihre Strahlen-Experten das Gebiet besuchen können. Nach mehreren Wochen der Verzögerung erlaubten die USA am 21. Mai der IAEO schließlich die Rückkehr in den Irak, allerdings mit einem stark eingeschränkten Mandat. Es erlaubt, die Stoffe zu erfassen und aufzulisten, die noch in einem Teil der Anlage von Tuwaitha lagern. Die IAEO darf weder eine Bewertung der Auswirkungen für Menschen und Umwelt im Umfeld dieses Standortes noch für andere Standorte in Irak vornehmen. Sie darf auch nicht die übrigen sechs Atomanlagen besuchen, an denen es zu "Plünderungen" gekommen sein soll.
US-Behörden spielen Problem herunter
Das Nuclear Disablement Team, ein Zusammenschluss von Behörden der US-Regierung mit Sitz in Washington, die sich damit befassen nukleares Material unbrauchbar zu machen, behauptet, dass das Material aus Tuwaitha nur eine geringe bzw. gar keine Gefahr für die Menschen darstelle und nicht für den Bau einer funktionsfähigen schmutzigen Bombe benutzt werden könne, obwohl möglicherweise Cäsium und andere hochradioaktive Stoffe verschwunden sind.
Die Behörde behauptet, das Strahlen-Niveau sei nicht mehr als doppelt so hoch, wie die täglich von Menschen aufgenommene Dosis. Andererseits kaufen die US-Streitkräfte für drei US-Dollar Fässer zurück, in denen sich vorher Urankonzentrat befand. Zudem gibt es weitere Berichte über Strahlenerkrankungen.
Greenpeace recherchiert
Greenpeace ist im Irak mit einem kleinen Team von Spezialisten unterwegs, um die Umgebung von Atomanlagen zu untersuchen und die Auswirkungen der Radioaktivität festzustellen. Das Team wird Proben von Erde und Wasser nehmen und im Labor untersuchen lassen sowie eine Dokumentation mit speziellen Geräten für radioaktive Messungen durchführen. Die radiologische Untersuchung durch Greenpeace kann nicht umfassend sein. Aber sie wird einen Eindruck über die wahren Risiken für Mensch und Umwelt in der Nähe der Anlagen liefern.
Greenpeace fordert:
- Das Kernforschungszentrum Tuwaitha und alle anderen Atomanlagen im Irak müssen vollständig untersucht werden:
- Die Besatzungsmächte müssen der IAEO erlauben, mit einem uneingeschränkten Mandat in Irak zu bleiben und sämtliche Atomanlagen zu überprüfen und zu dokumentieren.
- Die Besatzungsmächte müssen der IAEO erlauben, die Folgen der Verbreitung von radioaktiven Stoffen für die umliegenden Dörfer in medizinischer Hinsicht und der Umwelt zu dokumentieren. Das wäre in anderen Ländern und unter anderen Umständen Standard.
- In Irak muss dringend nach sämtlichen industriell gefertigten radioaktiven Isotopen gesucht werden - es handelt sich um potenziell "schmutzige Bomben", also konventionelle Bomben, die mit radioaktivem Material kombiniert werden können.
V.i.S.d.P.: Stefan Schurig
Stand: 06/2003