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Greenpeace-Atomexperte Tobias Münchmeyer misst die radioaktive Strahlung am Sarkophag des Atomkraftwerks in Tschornobyl
© Jan Grarup / Noor / Greenpeace

36. Jahrestag der Tschornobyl-Katastrophe

Auch Jahrzehnte nach dem Reaktorunglück in Tschornobyl* steht der Name der ukrainischen Ortschaft sinnbildlich für die Gefahren der zivilen Atomkraft. Die Angst vor der radioaktiven Wolke prägte viele Kindheiten in den Achtzigern; der Krieg in der Ukraine, inklusive Kämpfe in unmittelbarer Umgebung des havarierten Kraftwerks, hat Tschornobyl erneut in die Schlagzeilen gebracht. Welche Gefahr geht heute noch von der Atomruine aus? Wir sprachen zum Jahrestag der Katastrophe mit Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital über Atomkraftwerke im Krieg.

 Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital demonstriert mit einer lebensgroßen Castor-Attrappe. Auf dem Transparent: "Gorleben: Schicht im Schacht".

Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital bei einer Demonstration 2020 in Gorleben

Greenpeace: Heinz, du bist seit 1991 für Greenpeace tätig. Hast du viele Orte gesehen, an denen Atomkatastrophen geschehen sind?

Heinz Smital: Ja, ich bin tatsächlich viel herumgereist. Ich habe aus dem Grund auch eine fachkundige Ausbildung als Strahlenschutzbeauftragter, die muss ich alle fünf Jahre auffrischen. Ich war häufig in der Region von Tschornobyl und jedes Jahr mindestens einmal im Bereich von Fukushima, seit die Katastrophe dort geschehen ist - wenn auch durch die Pandemie in den vergangenen zwei Jahren nicht mehr. Es gibt aber noch andere kontaminierte Orte in Russland, die kerntechnische Anlage Majak zum Beispiel. Da gibt es einen Fluss, der stark radioaktiv belastet ist. Dort war das Atomwaffenprogramm der Russen stationiert, die da zunächst recht sorglos mit atomaren Abfällen umgegangen sind. Und natürlich Sellafield in England.

Wie hast du Tschornobyl in Erinnerung?

Man sieht zum Beispiel in der nahegelegenen Stadt Prypjat, wie das Leben von jetzt auf gleich verlassen worden ist. Da stehen noch Sachen auf dem Tisch, Spielzeug liegt herum. Das ist sehr ergreifend, was diese Atomkatastrophe 1986 ausgelöst hat. Den Leuten wurde ursprünglich gesagt, in drei Tagen sind sie wieder zurück, und sie sind nie wieder zurückgekehrt. Das sind eindrückliche Bilder.

Das havarierte Kraftwerk war in den vergangenen Wochen wegen des Ukrainekriegs bereits mehrfach in den Schlagzeilen. Zuletzt gab es Medienberichte über Soldaten, die strahlenkrank aus dem Gebiet abgezogen wurden. Gleichzeitig gehen dort Menschen zur Arbeit, es gibt einen regelrechten Tourismus in der Gegend. Warum werden die einen krank, die anderen nicht?

Dass russische Soldaten dort hohe Strahlendosen abbekommen haben, ist sehr gut belegt. 26 davon waren danach in einer Spezialklinik für Strahlenkrankheiten, weitere 67 nach meinen Informationen in anderen Krankenhäusern, auch mit akuten Strahlensyndromen. Wir wissen nicht ganz genau, was die Soldaten dort gemacht haben, in welcher Gegend sie genau gegraben haben, ob sie vielleicht auch Gebäude betreten haben, die stark radioaktiv waren.
Wenn man geführte Touren in dieser Sperrzone macht, bewegt man sich auf sehr gut dekontaminierten, asphaltierten Böden. Dort gibt es vielleicht noch etwas externe Strahlung. Aber das ist ein überschaubareres Risiko, weil man dabei an Orten ist, die sehr gut eingemessen sind.

Peace Talks

Greenpeace-Expert:innen untersuchen den havarierten Reaktor von Tschornobyl und das umliegende verstrahlte Gebiet wie Pripyat.

Hören Sie hier das ausführliche Interview mit Heinz Smital über die Gefahren, die von Atomanlagen im Krieg ausgehen.

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Aber wenn ich von der Straße abweiche und mich dort querfeldein bewege, dann kann es durchaus sein, dass ich strahlenkrank werde?

Das ist richtig. Es kommt dann zu der externen Strahlung, wie man sie etwa bei einer Röntgen-Untersuchung hat, sogenannte inkorporierte Strahlung dazu. Das heißt, wenn man dort mit Schaufeln tätig ist und keinen entsprechenden Schutz trägt, inhaliert man unter Umständen Radioaktivität. Und in Tschornobyl gibt es eben nicht nur Cäsium 137, das beim Inkorporieren nicht ganz so problematisch ist, weil es relativ schnell auch wieder ausgeschieden wird, sondern eben auch Strontium und Plutonium. Und das verweilt sehr, sehr lange im Körper, sodass bereits eine geringe Becquerel-Anzahl zu hohen Strahlendosen führen kann; Becquerel ist die Einheit, die den radioaktiven Zerfall einer Substanz pro Sekunde misst. 

Wie wirkt sich so eine Strahlenkrankheit im Körper aus?

Im Wesentlichen wird die Zellteilung unterbunden, dadurch wird kein neues Blut gebildet. Man kann dann noch durch Knochenmarktransplantationen oder Bluttransfusionen lebenserhaltende Maßnahmen einleiten, aber da ist auch sehr bald das Ende des Machbaren erreicht. Bei sehr hohen Strahlendosen lässt sich nichts mehr machen. Das ist ein ganz schrecklicher Tod.

Wie schützt man sich als Besucher:in dort?

Man kann sich kontaminierte Gebiete vielleicht so vorstellen wie frisch mit Farbe gestrichen: Wo man sich anlehnt, wenn man eine Tasche abstellt, all das ist dann sozusagen eingefärbt. Und deswegen braucht man ganz spezielle Verhaltensweisen in kontaminierten Gebieten. Nichts anfassen, wenn, dann nur mit Handschuhen. Die Handschuhe muss man auf eine ganz bestimmte Art und Weise ausziehen, damit man beim Ausziehen nicht wieder Radioaktivität verfrachtet. Außerdem werden Kontaminationsmessungen durchgeführt.

In einem Kindergarten liegen die Spielsachen so, wie sie nach der Katastrophe zurückgelassen wurden. Die Gasmaske eines Kindes neben einer Puppe ist nur ein weiteres grausames Paradoxon: Eine Woche vor dem Atomunfall wurden die Kinder darin geschult, die Sicherheitsausrüstung gegen die atomare Gefahr zu benutzen. Doch am Tag des Unfalls wurde auf Anweisung der Parteiführung keine einzige Gasmaske benutzt.

Am 26. April 1986 erschüttert eine Explosion das Atomkraftwerk Tschornobyl. Eine radioaktive Wolke verseucht die Region und zieht über Europa. Ursache sind menschliches Versagen und technische Mängel.

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Warum ist bei der Katastrophe von Tschornobyl ein so großes Gebiet kontaminiert worden?

Das liegt vor allem daran, dass im Unglücksverlauf durch den Graphitbrand die Radioaktivität in eine große Höhe gebracht worden ist.

Warum Graphit? Das musst du erklären.

Graphit ist der sogenannte Moderator für den Reaktortyp in Tschornobyl. Die meisten Reaktoren, die es auf der Welt gibt, sind allerdings Druckwasser- und Siedewasserreaktoren. Die laufen mit normalem Wasser als Moderator. 

Wozu braucht man diese Moderatoren? 

Man muss die Neutronen im Reaktor etwas abbremsen, dann haben sie einen größeren Wirkungsquerschnitt. Das heißt, nur dann wird die Kettenreaktion und eine Kernspaltung von Uran 235 zuverlässig eingeleitet. Sind die Neutronen zu schnell, wird die Reaktion seltener ausgelöst. In Tschornobyl hat vor allem dieses Graphit gebrannt, das den Kernbrennstoff umgibt, aber eben auch selbst sehr hoch radioaktiv kontaminiert ist. 

Was ist dann passiert?

Im Prinzip gibt es bei einem Reaktorunfall zwei wesentliche Komponenten. Das eine ist die Freisetzung: Wie viel Radioaktivität ist wirklich entwichen? Und das andere ist die Frage: Wie verteilt sie sich dann durch zufällige Wetterbedingungen in der Region? Da spielen zum Beispiel Niederschläge eine große Rolle. In Europa hat sich die Wolke zunächst Richtung Skandinavien bewegt. Das schwedische Atomkraftwerk Forsmark hat als erstes erhöhte Strahlung gemessen, obwohl in der eigenen Anlage nichts vorgefallen ist. Die Wolke hatte da schon über 1000 Kilometer zurückgelegt.

Wie gefährlich war das?

Das war durchaus relevant. Der Wind trieb die Wolke Richtung Süden, danach wurden auch Bayern und Österreich nicht unerheblich kontaminiert, weil es dort dann eben auch geregnet hat. Es ist wichtig, ob die Wolke einfach so vorbeizieht oder es tatsächlich regnet: In dem Fall wird Radioaktivität ausgewaschen und trifft auf dem Boden. Wir haben in Bayern nach wie vor hoch kontaminierte Pilze. Die sind auch heute noch über den Grenzwerten, die für Nahrungsmittel vorgesehen sind.

Greenpeace-Feuerwehrleute in der radioaktiv verseuchten Region Brjansk

Feuerwehrleute in der verstrahlten Bryansk-Region nahe Tschornobyl 2016.

Wir hören immer wieder von Bränden in der Region, auch in den vergangenen Wochen. Entstehen die ausschließlich durch die Kampfhandlungen dort?

Das Gebiet um Tschornobyl ist ohnehin eine brandgefährdete Region. Zum Teil brennt dort unterirdisch der Torfboden: Der glimmt unter der Oberfläche vor sich hin und kann sich immer wieder entzünden. Es spricht einiges dafür, dass die Waldbrände auch durch Menschen ausgelöst werden, weil es an verschiedenen Stellen relativ gleichzeitig zu Feuern gekommen ist. 

Und ist dort die Feuerwehr im Einsatz?

Ja, da gibt es eigentlich sehr viel Feuerwehr. Aber in diesem Jahr ist es anders: Die ukrainischen Feuerwehrleute konnten nicht ausrücken, weil dort eben Krieg ist. Für die Bevölkerung ist das ein riesiges Problem: In Tschornobyl arbeiten nach wie vor fast 2000 Leute, um diesen Reaktor zu kontrollieren und rückzubauen. Die sind dann dieser Rauchfahne ausgeliefert. 

Welche Gefahr geht von den Atomkraftwerken in der Ukraine aus? Es gibt ja nicht nur die Atomruine von Tschornobyl, sondern auch das AKW Saporischschja, an dem Kampfhandlungen stattfanden.

So ein Kraftwerk besitzt schon auch eine gewisse Robustheit, was seine Stromversorgung und Kühlquellen angeht. Aber es ist eben enorm wichtig, dass ein Atomkraftwerk eine funktionierende Infrastruktur hat. Es braucht große Mengen an Strom für die Kühlung. Und was passiert, wenn es die nicht gibt? Das hat der Unfall von Fukushima gezeigt, wo eben in allen laufenden Reaktoren eine Kernschmelze stattfand und das Ganze zu einer Wasserstoffexplosion führte.

Innenräume einer Schule in der Stadt Pripyat - eine Geisterstadt, die vor 25 Jahren nach der Nuklearkatastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl verlassen wurde.

Prypjat ist bis heute eine Geisterstadt: Menschen haben sie 1986 fluchtartig verlassen.

Lässt sich sagen, welche Atomkatastrophe schlimmer war, Fukushima oder Tschornobyl?

Letztlich ist bei Tschornobyl mehr Radioaktivität freigesetzt worden. Die Auswirkungen wurden durch den Graphitbrand allerdings gleichzeitig etwas gemildert: Das Feuer hat die Radioaktivität in sehr große Höhen verfrachtet, dadurch sehr weiträumig verteilt und dadurch ist die nähere Umgebung etwas stärker verschont worden. Kyjiw hat zum Beispiel gar nicht so viel Strahlung abbekommen. Bei einem Unfall mit einem Druckwasserreaktor wie ihn beispielsweise Saporischschja hat, wäre die nähere Umgebung wesentlich stärker radioaktiv belastet worden.

Nutzt Russland die Angst vor einer Atomkatastrophe auch als Abschreckungsmittel in diesem Krieg? 

Ich denke nicht, dass Russland daran gelegen ist, schon wirtschaftlich nicht. Es gibt in der EU 18 Atomkraftwerke, in Tschechien, in Bulgarien, auch in Finnland und Ungarn, die zu hundert Prozent von russischen Kernbrennstofflieferungen abhängig sind. Russland hat großes Interesse daran, Atomkraft in der Welt zu verbreiten, auch um geopolitische Abhängigkeiten zu stärken. Kein anderes Land baut im Ausland so viele Atomkraftwerke wie Russland - und will das auch weiterhin tun. 

Daneben reichert Russland Uran an, mit dem sie diese Kernkraftwerke russischen Typs beliefern. Trotz Flugverbot, trotz Embargo sind Flugzeuge in Tschechien und in der Slowakei gelandet, um genau diese europäischen Kraftwerke mit Brennstoff zu beliefern. Da wird vieles stillschweigend unterlaufen, um das Atomare aufrecht zu erhalten. Diese energiepolitische Abhängigkeit von Russland bereitet mir große Sorgen - neben der von Kohle, Öl und Gas, über die derzeit mehr gesprochen wird.

Im Zuge der Diskussion, ob Atomkraft in die EU-Nachhaltigkeitstaxonomie aufgenommen werden soll, hört man oft von einer angeblichen “Renaissance” dieser Technologie. Ist da was dran?

Nein. Es sind eigentlich vor allem autokratische Systeme, die die Atomkraft voranbringen. In den westlichen Staaten, also USA, Frankreich, England, die auch Atomnationen sind, gibt es kaum Neubauten. Die USA haben fast 100 Atomkraftwerke, zwei sind noch im Bau. Frankreich hat 56 Reaktoren, da wird ein einziger noch gebaut. Das heißt, da spielt sich eigentlich nicht sehr viel ab, was neue Anlagen betrifft. Es wird nur viel geredet: Margaret Thatcher hatte 1988 den Bau neuer Atomkraftwerken groß angekündigt. Von diesen Projekten ist 34 Jahre später kein einziges umgesetzt.

Warum?

Weil es zu teuer ist; weil Investoren abspringen. Ein Beispiel: Dem Reaktor, der jetzt in England gebaut wird, werden für 35 Jahre Vergünstigungen eingeräumt. Etwas Vergleichbares haben Erneuerbare nie bekommen. Die hatten maximal 20 Jahre vergünstigte Einspeisetarife. Und trotzdem springen Investoren ab, weil es ihnen zu viel Risiko ist. Tatsächlich sind etliche geplanten Atomkraftwerke in der Vergangenheit als Investitionsruinen gestrandet. Atomkraft ist kein günstiger Weg der Energieerzeugung.

* Warum Tschornobyl und nicht Tschernobyl? In deutschsprachigen Texten sind ukrainische Städte- und Flussnamen bisher in der Regel in der russischen Schreibweise zu lesen, z.B. die „Hauptstadt Kiew“ oder der „Fluss Dnepr“. Damit folgen deutsche Medien in der Regel einer Vorgabe der Arbeitsgruppe „Transkriptionen“ deutschsprachiger Nachrichtenagenturen – die allerdings zuletzt im Jahr 2003 aktualisiert wurde.
Schon seit vielen Jahren setzen sich Menschen und Organisationen aus der Ukraine für die ukrainische Transkription von Städtenamen ein – seit 2018 gibt es eine entsprechende Kampagne des ukrainischen Außenministeriums, um auch über diesen Ansatz deutlich zu machen, dass die Ukraine ein unabhängiger Staat mit einer eigenständigen Kultur und Sprache ist. Greenpeace folgt dieser Argumentation. Wir werden daher ab sofort wo möglich die ukrainische Transkription von Städte- und anderen geographischen Namen übernehmen.

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