Russland provoziert atomaren Notstand in der Ukraine - IAEO muss handeln
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Seit dem Sommer sind die Angriffe Russlands auf die Energieversorgung und Stromnetze der Ukraine besonders schlimm. Mittlerweile ist die Stromversorgung des immer wieder bombardierten Landes so instabil, dass die Vereinten Nationen vor einem Blackout warnen. Bei einem solchen wäre die Sicherheit der ukrainischen Atomkraftwerke nicht mehr gegeben. Greenpeace appelliert an die IAEO (Internationale Atomenergie Organisation) und die Regierungen mehrerer Staaten, alles ihnen Mögliche zu tun, um Russland von weiteren Angriffen auf die Stromversorgung der Ukraine abzuhalten.
Es sind Horrorszenarien, und wenn alles gut läuft, werden es hoffentlich theoretische Szenarien bleiben. Aber im Moment ist die Lage der Atomkraftwerke in der Ukraine so ernst wie noch nie: Was, wenn das Stromnetz zusammenbricht? Atomkraftwerke produzieren Strom, aber sie brauchen auch welchen, um nicht in die Luft zu fliegen. Die Kernbrennstäbe müssen fortwährend gekühlt werden. Besonders, wenn das AKW in Betrieb ist, aber eben auch, wenn es heruntergefahren wurde. Bricht die Stromversorgung von außen zusammen, hat jedes AKW deshalb mit Diesel betriebene Notstromaggregate, die für eine Weile in die Bresche springen können. Denn bei einem Ausfall der Kühlung von Atomkraftwerken kann es zur Kernschmelze kommen, dem schlimmsten aller anzunehmenden Unfälle, dem Super GAU.
Deswegen ist eine verlässliche Stromversorgung unabdingbar für Atomkraftwerke, egal, ob sie noch laufen oder schon vom Netz sind. Doch die fortdauernden Angriffswellen Russlands auf die Ukraine gefährden diese Stromversorgung zunehmend. Mit Absicht und Plan zerstört Russland mehr und mehr Kraftwerke, Verteilerstationen, Umspannungswerke und andere für die Energieversorgung kritische Infrastruktur. So meldet der Bericht der Vereinten Nationen für Menschen Rechte (HRMMU) letztens: „Zwischen dem 22. März und dem 31. August starteten die russischen Streitkräfte neun Wellen koordinierter Angriffe auf die Strominfrastruktur in der Ukraine und trafen dabei Einrichtungen in 20 der 24 von der Ukraine kontrollierten Regionen, darunter Kyiv. Diese komplexen Angriffe, bei denen Raketen, herumfliegende Munition und Drohnen zum Einsatz kamen, beschädigten wichtige Stromerzeugungsanlagen wie Wärme-, Wasser- und Solarkraftwerke schwer.“ Auch die Angriffswelle am 17. November ging wieder einmal gezielt auf die Energieinfrastruktur und brauchte die Stromversorgung der Ukraine an ihre Grenzen. In mehreren Gebieten musste daraufhin der Strom abgeschaltet werden, um einer eventuellen Überlastung des Netzes vorzubeugen.
Noch 9 Reaktoren in Betrieb
Atomkraftwerke in der Ukraine
In der Ukraine gibt es 15 Atomreaktoren in vier Atomkraftwerken an vier Standorten. Die 6 Blöcke in Saporischschja sind mittlerweile in russischer Hand und auf internationales Drängen seit September 2022 abgeschaltet. Bis Ende August 2024 waren noch 9 Reaktorblöcke an den Standorten Riyne, South Ukraine und Khmelnytski in Betrieb.
Notabschaltungen in der Ukraine
Trotz Warnungen und Mahnungen der Vereinten Nationen und der IAEO gehen die russischen Angriffe immer weiter. Mittlerweile kam es zu ersten Notabschaltungen und Leistungsdrosselungen in ukrainischen Atomkraftwerken aufgrund der Angriffe. So meldete die Ukrainische Regierung: “Am 26. August 2024 startete die Russische Föderation einen massiven Raketen- und Drohnenangriff auf die kritische Infrastruktur und den Energiesektor der Ukraine mit dem Ziel, den Betrieb der Stromerzeugungsanlagen der Ukraine lahmzulegen. Infolge des Angriffs wurden um 08:58 Uhr (OEST) die Blöcke 1, 3 und 4 des Kernkraftwerks Riwne (RNPP) vom Netz getrennt. Um 09:05 Uhr (OEST) wurde die Leistung der Blöcke des Kernkraftwerks Südukraine (SUNPP) auf ein Gesamtniveau von 1.800 MW reduziert. Aufgrund von Schwankungen im nationalen Stromnetz, die durch den russischen Angriff verursacht wurden, wurde um 17:10 Uhr (OEST) der Block 3 des Kernkraftwerks Südukraine vom Netz getrennt. Außerdem wurde in RNPP und SUNPP in den verbleibenden Reaktorblöcken die Betriebsleistung reduziert.“
Teufelskreislauf mit Dominoeffekt
Das Netz der Urkaine ist dabei mittlerweile so grenzwertig zerstört und belastet, dass es kurz vor dem Kollaps steht. Wenn dann wegen fehlender oder schwankender Stromversorgung einzelne Atomkraftwerke vom Netz genommen werden müssen, bringt das die Netzstabilität des ganzen Landes weiter in Gefahr. Die Schwankungen nehmen zu, die Instabilität steigt, weitere Atomkraftwerke sind von Stromausfällen bedroht. So kann es zu Domino-Effekten kommen, an deren Ende ein landesweiter Stromausfall mit allen Konsequenzen droht.
Zumal mittlerweile ein wesentlicher Teil der ukrainischen Stromversorgung von den neun noch laufenden AKWs geliefert wird. Und Atomkraftwerke nicht “schwarz gestartet” werden können. Anders als (mittlerweile großteils zerstörte) Wasser- oder Gaskraftwerke können Atomkraftwerke (ebenso wie Kohlekraftwerke) nicht ohne Strom wieder in Betrieb genommen werden. Heißt, es könnte auch zu längeren Stromausfällen kommen, die dann die mit Diesel betriebenen Notstromaggregate an den Atomkraftwerken an ihre Grenzen bringen könnten.
Hinzu kommt, dass der Stromverbund mit Russland zu Beginn des Krieges schnell gekappt und eine Anbindung an das europäische Netz aufgebaut wurde. Diese Stromtrassen können nun maximal zwei Gigawatt und somit 12 Prozent des ukrainischen Strombedarfs liefern. Aber eben nicht mehr. Um das Netz stabil zu halten, ist dieser Einfluss im Fall der Fälle zu gering
Mit einem Brief und einer Analyse fordern Greenpeace-Atomexperten die IAEO und die Mitglieder meherer Regierungen zum schnellen Handeln auf. Die IAEO hat aufgrund der drängenden Lage bereits beschlossen, ihre Aktivitäten in der Ukraine auszuweiten. Am 6. September hatten die Ukrainischen Behörden um ein verstärktes Engagement gebeten und die erforderlichen Genehmigungen erteilt, auf der Generalversammlung der IAEO am 16. September war eine Ausweitung des Ukraineauftrages beschlossen worden, seit dem 12. September engagiert sie sich vermehrt in der Ukraine. Allein, den Aggressor kratzt das nicht. Und so geht diese Mission derzeit nicht schnell genug, da Russland immer weiter neuralgische Punkte zerstört.
Die Forderungen im einzelnen:
- Russland muss weitere Angriffe auf das Stromnetz der Ukraine stoppen, und zwar nicht nur auf die Atomkraftwerke und die wichtigsten Umspannwerke.
- Die internationale Gemeinschaft muss allen möglichen Druck auf Russland ausüben, um die Angriffe zu stoppen.
- Die IAEO muss mit der vollen Unterstützung der Mitgliedsstaaten ihre geplante erweiterte Mission in der Ukraine unverzüglich umsetzen, um Inspektor:innen in die kritische Strominfrastruktur zu entsenden, insbesondere in die für den Betrieb der Atomkraftwerke wichtigen Umspannwerke, und so als Abschreckung für weitere russische Militärangriffe wirken.
- Die internationale Unterstützung zum Wiederaufbau und Schutz der beschädigten Energieinfrastruktur der Ukraine ausweiten und schneller anwenden.
- Die Importkapazität durch die ENTSO-E-Netzverbindungen mit der Ukraine müssen weiter erhöht werden.
- Auf der Seite der Stromnachfrage – Energieeffizienzmaßnahmen und intelligente Zähler müssen ausgebaut und das Nachfragemanagement sowohl ausgebaut als auch angewendet werden.
- Auf der Seite der Stromerzeugung – Weitere Dezentralisierung, Batteriespeichersysteme im industriellen Maßstab, die mit Photovoltaik und Windkraft kombiniert werden, um die Ukraine weniger anfällig für Angriffe zu machen, sind notwendig.
Info-Box
Was passiert bei Stromausfall mit einem AKW?
Ein stabiles Elektrizitätsnetz ist laut der Internationalen Atomenergie-Agentur IAEA eine der Grundvoraussetzungen für den Betrieb von Atomkraftwerken.
Daher gibt es mehrere Netzanbindungen für einen Reaktor, mit verschiedenen Hoch- und Höchstspannungskreisen.
Auch der gesamte „Verlust der externen Stromversorgung“ (Loss of Offsite Power LOOP) ist durch Szenarien abgesichert, aber bereits sehr kritisch.
Ein Reaktor kann in den „Inselbetrieb“ wechseln, der Lastabwurf verringert sich auf Eigenbedarf, wo die Leistung so weit reduziert wird, dass nur der Eigenbedarf für Kühl-, Instrumenten- und Kontrollsysteme bedient wird. Diese Betriebsart bei sehr niedriger Leistung (10 bis 15%) gelingt oft nicht und ist nicht sehr stabil.
Am Schluss bleiben noch die Notstromdieselgeneratoren, die aber nicht für einen Dauerbetrieb ausgelegt sind. Ein Reaktorblock hat meist 3 Notstromdiesel, einer verbraucht über 30 Tonnen Dieseltreibstoff pro Tag. Batterien können nur für sehr kurze Zeit (wenige Stunden) die Aufrechterhaltung aller notwendigsten Sicherungssystem gewährleisten. Danach ist der Ausfall der Kühlung, ein Überhitzen des Reaktorkerns mit Kernschmelze und Wasserstoffproduktion unvermeidlich und eine große Freisetzung von Radioaktivität wahrscheinlich. Wenn der Ausfall der Stromversorgung direkt aus dem vollen Leistungsbetrieb erfolgt, ist der Kühlbedarf besonders hoch und die Zeitspanne, bis die Stromversorgung wieder hergestellt werden muss kurz. Das frühzeitige Abschalten von Reaktoren und eine Leistungsreduzierung können beim Ausfall der Kühlung die Situation und Zeitspannen etwas entschärfen.
Russische Angriffe auf das ukrainische Stromnetz gefährden nukleare Sicherheit
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