Samstag, 19. März 2011 in Fukushima
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Chronologie des Atomunfalls in Fukushima: Die Lage am 19. März 2011: Die sechs Reaktoren in der AKW-Anlage Fukushima I sind unterschiedlich stark beschädigt. Wir versuchen die Lage einzuschätzen.
Timeline vom Samstag, 19. März 2011
16.30 Uhr: Japanische Behörden haben im Leitungswasser nahe des Kraftwerks Fukushima erhöhte Werte von Radioaktivität nachgewiesen. Die Werte sollen den empfohlenen Wert übersteigen, über dem man das Wasser nicht mehr trinken sollte. Der Kontakt mit radioaktivem Jod kann zu einem erhöhten Krebsrisiko führen.
15.00 Uhr: Laut Verteidigungsminister Kitazawa sollen die Reaktoren 1 bis 4 jetzt rund um die Uhr statt phasenweise besprüht werden. Am Reaktor 3 wurden bei einem neuen Kühleinsatz Spezialfahrzeuge der Tokioter Feuerwehr eingesetzt. Erschwert wird der Einsatz durch die hohe Strahlung, die einen Aufenthalt nahe der Reaktorgebäude nur kurzzeitig erlaubt.
Atomkatastrophe in Japan - Eine Einschätzung
Die sechs Reaktoren in der AKW-Anlage Fukushima I sind unterschiedlich stark beschädigt. Seit Tagen leisten Ingenieure, Feuerwehrleute und Polizisten vor Ort Unfassbares, um den Super-Gau zu verhindern. Wir versuchen die Lage in Japan einzuschätzen.
Alle Reaktoren werden zurzeit nur von außen durch Meerwasser gekühlt. Neben Hubschraubern und Flugzeugen werden auch Spezialfahrzeuge eingesetzt, die aus sehr großer Höhe Wasser versprühen können. Diese in Deutschland gebauten Fahrzeuge pumpen normalerweise flüssigen Beton und sind zu diesem Zweck auch schon in Tschernobyl eingesetzt worden.
Die japanische Regierung verkündete, dass die Kühlung des Reaktors 3 von außen zu einem kleinen Erfolg geführt habe - es sei mehr Wasser im Reaktor festgestellt worden. Er gilt als besonders kritisch: Im Gegensatz zu den anderen Reaktoren wurden hier wiederaufbereitete MOX-Brennelemente - aus Europa - eingesetzt, die Plutonium enthalten, ein besonders giftiges, radioaktives Schwermetall. Bereits ein Millionstel Gramm Plutoium kann im menschlichen Körper durch Einatmen oder Nahrung aufgenommen Krebs erzeugen.
Reaktor 4 war eigentlich zum Zeitpunkt des Erdbebens wegen Wartungsarbeiten nicht am Netz. Die Brennelemente lagern in einem Abklingbecken außerhalb des Sicherheitsbehälters - und das ist ein großes Problem. Bislang ist es nicht gelungen, Wasser in das Abklingbecken zu füllen. Wasser kühlt nicht nur, sondern schirmt auch Strahlung ab. Vielleicht gelingt es, über die neuen Spezialfahrzeuge, das Becken zu füllen.
"Weniger dramatisch" ist die Situation in den Reaktoren 5 und 6, da die Anlagen zum Zeitpunkt des Erdbebens bereits abgeschaltet waren. Beide Reaktoren werden mit Dieselgeneratoren versorgt, die Wasserzufuhr dadurch aufrecht erhalten.
Zwar ist es gelungen, ein externes Stromkabel zu verlegen, die Stromzufuhr könnte also wieder hergestellt werden. Unklar ist aber nach wie vor, ob die Kühlsysteme nach Erdbeben, Tsunami und Besprühen durch Meerwasser überhaupt noch funktionieren.
Immer wieder kommt es zu Explosionen - sogenannten Wasserstoffexplosionen. Durch das Schmelzen der Brennelementhülsen entsteht Wasserstoff, der in Verbindung mit Sauerstoff explodieren kann - die sogenannte Knallgasexplosion, die Generationen von Schülern aus dem Chemieunterricht in der Schule kennen.
Die Strahlenbelastung
Die Regierung hat den Grenzwert für die Arbeiter auf 150 Millisievert pro Arbeitsschicht heraufgesetzt. In Deutschland ist 1 Millisievert PRO JAHR der Grenzwert für die Zivilbevölkerung. Zeitweise, wenn kontrolliert Dampf abgelassen wurde, um den Druck zu reduzieren, betrug die Strahlung an den Reaktoren nach offiziellen Angaben 1000 Millisievert pro Stunde.
Ab 500 Millisievert treten akute Strahlenschäden auf, bei 4000 Millisiewert sterben 50 Prozent der Betroffenen, ab 7000 Millisievert liegt die Todesrate bei 100 Prozent. Allerdings beziehen sich diese Werte nur auf akute Strahlenschäden, das Risiko, langfristig an Krebs zu erkranken steigt mit jeder zusätzlich zur natürlichen Strahlung aufgenommenen Radioaktivität.
Die Strahlung in der Umgebung der Anlage schwankt und ist abhängig von der Windrichtung. Noch weht der Wind Richtung Meer - die Millionenmetropole Tokio ist bislang verschont geblieben.
Das Besprühen der Reaktoren mit Wasser hat den gleichen Effekt wie Regen, die radioaktiven Partikel werden zu Boden gedrückt und kontaminieren somit nicht so große Gebiete. Für die unmittelbare Umgebung des AKW-Geländes und damit auch für die Arbeiter vor Ort erhöht sich dadurch allerdings die Belastung!
Heute morgen gab Regierungssprecher Edano bekannt, dass die in Milch und Spinat gemessene Radioaktivität die erlaubten Grenzwerte übersteige. Edano erklärte, dass durch die aus der Umgebung stammenden Lebensmittel aber keine akute Gesundheitsgefährdung zu erwarten sei. Wer ein Jahr lang die belasteten Lebensmittel essen würde, würde die Strahlendosis einer Röntgenuntersuchung erhalten.
Die japanische Nachrichtenagentur Kyodo meldete, dass die Behörden auch im Trinkwasser in Tokio Spuren von radioaktivem Jod gefunden hätten - die Werte lägen aber deutlich unter dem zulässigen Grenzwert. Auch in fünf anderen Präfekturen wurde ein erhöhter Wert von Radioaktivität im Leitungswasser nachgewiesen.
Die japanischen Regierung empfahl Menschen, die das Gebiet um Fukushima 1 verlassen wollen, Jod zu nehmen. Jodtabletten können die Folgen einer radioaktiven Verseuchung mildern, da die Tabletten die Aufnahme von radioaktivem Jod in der Schilddrüse blockieren. Evakuiert wurde bislang ein Radius von 20 Kilometern um die Atomkraftwerksblöcke.
Was passiert im Fall einer Kernschmelze?
Es gibt zwei Szenarien mit unterschiedlichen Folgen - beide wären katastrophal.
1. Durchschmelzen der Sicherheitsbehälter in den Boden
Unsere Experten hoffen allerdings, dass geschmolzene Uranmasse in den Reaktordruckbehältern nicht explodiert, sondern im zweitschlechtesten Fall erst den Boden des Reaktordruckbehälters und dann womöglich auch den Boden des Sicherheitsbehälters durchschmilzt. Im besten Fall durchdringt die radioaktive Masse nicht die zehn Meter dicke Betonschicht unter der Anlage. Ansonsten würde es zu einer hochgradigen Verseuchung des Bodens und des Trinkwassers in der näheren Umgebung der Anlage kommen. Die Erzeugung von Lebensmitteln wäre in diesem Gebiet nicht mehr möglich.
2. Explosion der Sicherheitsbehälter
Kommt es stattdessen durch die Wasserstoffbildung bei der Kernschmelze zu einer Explosion, bei der der äußere Sicherheitsbehälter eines Reaktors zerstört wird, sind die Folgen noch weniger abschätzbar: Es käme zu einer unkontrollierten Freisetzung radioaktiver Partikel wie Cäsium und Jod in die Luft. Wie groß eine Freisetzung ist, hängt von der Stärke der Explosion und des frei gesetzten radioaktiven Inventars ab. Wie weit sich die radioaktive Wolke verbreiten würde, hängt davon ab, wie hoch die radioaktiven Partikel durch die Explosion geschleudert werden und welche Windrichtungen und -geschwindigkeiten zu dem Zeitpunkt herrschen.
Was passiert, wenn die abgebrannten Brennstäbe in den Abklingbecken der Reaktoren nicht mehr gekühlt werden?
Auch in abgebrannten und aus dem Reaktor entladenen Brennelementen geht der radioaktive Zerfall weiter. Dies führt a) zu großer Hitzeentwicklung (Nachzerfallswärme und b) zu sehr hoher Strahlung. Allein im Abklingbecken des schon zum Zeitpunkt des Erdbebens abgeschalteten Reaktors Nr. 4 lagern 292 Tonne hochradioaktive Brennelemente.
Nach der Abklingzeit in einem mit Wasser gefüllten und ständig gekühlten Becken von bis zu fünf Jahren sind die Brennelemente immer noch bis zu 400 Grad heiß. Auch nach der Zwischenlagerung von etwa 40 Jahren in sogenannten Castorbehältern, sehen die Planungen für die Endlagerung Temperaturen von bis zu 200 Grad an der Außenseite der Endlagerbehälter vor.
Wenn diese Brennelemente in den Abklingbecken nicht mehr gekühlt werden, beginnen sie zu schmelzen und setzen enorme Mengen an Strahlung frei. Dadurch könnte die Strahlenbelastung derart ansteigen, dass alle Arbeiter in Fukushima vom Unglücksort abgezogen werden müssen. Damit wäre die Anlage sich selbst überlassen und bei jedem Reaktor stellt sich erneut die Frage, ob er nach unten durchschmilzt oder explodiert.
Bereits jetzt sind laut französischer Atomaufsicht zehn Prozent der Menge an flüchtigen radioaktiven Partikeln wie Jod und Cäsium freigesetzt worden, die der Unfall in Tschernobyl in die Atmosphäre gewirbelt hat. Doch anders als in Tschernobyl werden die Partikel auch bei einer Explosion nicht über Tausende von Kilometern in die Umwelt gelangen. In Tschernobyl handelte es sich um einen graphitmoderierten Reaktor. Die tagelangen Brände der Graphitkohle und die vulkanartige Explosion des Reaktors hat die radioaktiven Stoffe damals kilometerhoch in die Atmosphäre geschleudert und so über halb Europa verteilt.
Die Situation der Reaktoren 1 bis 3
Reaktor 1: Der Sicherheitsbehälter scheint intakt zu sein. Ein Sicherheitsbehälter besteht aus Stahl und Beton und umschließt den Druckbehälter, in dem die Brennstäbe liegen sowie die Rohrleitungen zur Versorgung des Druckbehälters. Seit Freitagabend (18:15 Uhr) liegen aber vermutlich die Brennstäbe frei, da kein Wasserstand mehr gemessen werden konnte. Experten aus den USA gehen davon aus, dass die Kernschmelze der Brennstäbe nach dem kompletten Verlust des Kühlmittels nach circa 17 Stunden einsetzt.
Reaktor 2: Laut Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) ist der Sicherheitsbehälter defekt. Es wird von einem Druckanstieg berichtet. Das bedeutet, dass es im Druckbehälter heißer wird. Gleichzeitig scheint der Druckbehälter dadurch aber noch intakt zu sein. Vermutlich ist nur noch ein Meter der insgesamt vier Meter langen Brennstäbe mit Wasser bedeckt.
Reaktor 3: Der Zustand von Sicherheits- und Druckbehälter ist unklar. Ein leichter Druckabfall in dem mit MOX-Brennelementen gefüllten Druckbehälter deutet allerdings auf ein Leck hin. Zwei Megawatt Restwärme produzieren diese Brennstäbe jetzt noch, obwohl die Kettenreaktion unterbrochen wurde. Vermutet wird, dass noch 2,3 Meter mit Wasser bedeckt sind. Die Lage scheint derzeit relativ stabil zu sein.