Defekte Bauteile in 50 Prozent der französischen AKW: Greenpeace-Report analysiert Atomskandal
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AKW-Krise im Nachbarland Frankreich: In mehr als 50 Prozent der Atomkraftwerke sind bruchgefährdete Teile verbaut. Ein Greenpeace-Report enthüllt die Dimension des Skandals.
Update vom 20. Oktober 2016
Die französische Atomaufsicht hat aus Sicherheitsgründen die Abschaltung von fünf Reaktoren angeordnet. Als Grund werden Probleme mit den Dampferzeugern genannt. Betroffen sind die AKW Fessenheim, Civeaux, Gravelines und – mit zwei Reaktoren – Tricastin. Im AKW Fessenheim sind dann zwei Meiler vom Netz; der erste wurde schon im Juni heruntergefahren.
„Die französische Atomindustrie verfährt nach der Salami-Taktik - scheibchenweise kommen immer neue Probleme ans Licht, deren Ausmaß wir derzeit nur erahnen können“, kommentiert Susanne Neubronner, Greenpeace-Expertin für Atomkraft. „Die einzige Möglichkeit, um Sicherheit zu gewährleisten, ist, alle Risiko-AKW abzuschalten, bis sämtliche Untersuchungen abgeschlossen sind."
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Die meisten Franzosen haben traditionell ein eher entspanntes Verhältnis zur Atomkraft. Kein europäisches Land hat mehr auf Atomstrom gesetzt, 58 Atomkraftwerke sind jenseits der Grenze in Betrieb, der französische Reaktorbauer Areva beliefert Länder in aller Welt mit Reaktoren und AKW-Bauteilen.
Jetzt ist Stress angesagt: Die AKW-Branche in Frankreich wird von einem Skandal erschüttert, der es in sich hat. Es geht um 55 Prozent aller französischen AKW. Sie sind durch Materialschwächen gefährdet, die nicht im Betrieb entstanden sind, sondern schon ab Werk mitgeliefert wurden. Materialschwächen in zentralen Bauteilen des AKW- Primärkreislaufs: teils am Reaktordruckbehälter, teils in Dampfgeneratoren oder anderen Komponenten des Reaktors.
50 Jahre Laissez-faire mit bösen Folgen
Der Skandal kommt häppchenweise ans Licht, ein Gesamtblick fehlte bisher. Greenpeace beauftragte deshalb das Londoner Ingenieurbüro Large & Associated, die Situation zu untersuchen und zu analysieren. Der Large-Bericht zeigt die Dimension des Skandals. Er zeigt vor allem: Über Jahrzehnte hinweg hat eine skrupellose Geschäftspolitik in Verbindung mit laschen Vorgaben und staatlichem Wegsehen die französische Stromversorgung in eine desaströse Lage gebracht hat. Das hausgemachte Problem lässt sich letztlich nur durch Abschalten der betroffenen Kraftwerke und Ausbauen der mangelhaften Bauteile lösen.
Der Fall Creusot Forge - Mangelware ab Werk
Das Werk, das die mangelhaften AKW-Bauteile lieferte, ist die Stahlschmiede Le Creusot Forge im Département Saône-et-Loire, seit 2006 im Besitz des Konzerns Areva. Dass dort nicht alles mit rechten Dingen zugeht, ist offenbar seit vielen Jahren bekannt; Materialmängel wurden bewusst verschleiert, teils auch gefälschte Zertifikate vorgelegt. Unklar ist, seit wann das Areva-Management darüber informiert ist – möglicherweise schon seit der Übernahme 2006.
Unregelmäßigkeiten bei Creusot lassen sich, wie inzwischen herauskam, bis 1965 zurückverfolgen. 400 Fälle sind dokumentiert. Die französische Atomaufsicht ASN fasst darunter alle „Widersprüche, Modifikationen oder Auslassungen in den Fertigungsakten hinsichtlich Fertigungsparametern und Testergebnissen“. Im Klartext: Es wurde manipuliert.
32 AKW betroffen
Large wertete eine umfassende Dokumentation der französischen Atomaufsicht ASN aus. Demnach sind von den „Unregelmäßigkeiten“ mehr als 50 Prozent der Kraftwerke betroffen. Insgesamt weisen 107 Bauteile in 32 französischen AKW gravierende Probleme mit mangelhaftem Stahl auf. 14 Standorte sind betroffen.
Der Stahl besitzt eine zu hohe Kohlenstoffkonzentration, was bei starker Beanspruchung zu Versprödung und zu einem Bersten des Materials führen kann. Bei 19 Reaktoren sind diese Kohlenstoff-Anomalien an den Dampferzeugern festgestellt worden. Das ist besonders riskant, denn auch nach Ansicht der renommierten französischen Sachverständigenorganisation Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire (IRSN) kann das Versagen eines Dampferzeugers eine Kernschmelze verursachen.
„In jedem Fall“, so das Large-Gutachten, „ ist die aktuelle Situation, in der KKW mit Risikokomponenten mit unbekannter Herstellungsgeschichte (also einer unvollständigen oder „unregelmäßigen“ Qualitätsprüfung) betrieben werden, im Sinne der nuklearen Sicherheit inakzeptabel. Das Problem darf nicht weiter nur fallweise behandelt werden, sodass die Risiken erst angegangen werden, wann immer und wo immer sie auftreten.“
Tatsächlich sind derzeit lediglich vier der 19 Reaktoren wegen weiterer Untersuchungen vom Netz, darunter ein Reaktor in Fessenheim bei Freiburg. „Die französische Atomaufsicht muss sofort handeln und alle betroffenen Meiler vom Netz nehmen“, fordert Susanne Neubronner, Greenpeace-Expertin für Atomkraft. „Frankreichs AKW sind eine akute Gefahr für Millionen Europäer.“
AKW-Neubau Flamanville: von vornherein mangelhaft
Dass der Skandal überhaupt aufflog, geht auf deutlich verspätete Materialprüfungen von Areva am AKW-Standort Flamanville zurück. Dort wird seit Ende 2007 der EPR (European Pressurized Water Reactor) gebaut. Bei der Untersuchung 2014 stellte sich heraus, dass der bereits verbaute Stahl des Reaktordruckbehälters mangelhaft ist. Die Atomaufsicht veranlasste weitere Untersuchungen. Diese enthüllten, dass hunderte Produktionsunterlagen für Bauteile des Stahlwerks Creusot Forge unvollständig und fehlerhaft waren.
Auch für den Neubau in Flamanville kann das nur heißen: Die Teile müssen raus. Der Bau, der ohnehin schon beträchtlich in Verzug ist, wird sich weiter verzögern, die Kosten dürften um etliche Millionen Euro steigen.
Es gibt nur eine Lösung: Der Schrott muss raus
Der sprichwörtliche gute Rat ist jetzt wirklich teuer. Wenn alle betroffenen AKW wie gefordert stillgelegt werden, um die betroffenen Teile auszubauen, kann mehr als die Hälfte aller französischen Atomreaktoren auf unbestimmte Zeit keinen Strom mehr produzieren. Schlecht für ein Land, das so sehr auf Atomstrom gesetzt hat.
„Frankreich hat die Energiewende verschlafen, daher klammert sich der Staat an einen Weiterbetrieb seiner Atomkraftwerke um jeden Preis“, so Neubronner. „Ein Preis, den die Menschen in benachbarten Ländern wie Deutschland nicht mehr bezahlen wollen.“