Der Castor soll rollen, obwohl die Strahlenwerte am Zwischenlager Gorleben viele Fragen aufwerfen
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Eine Behörde schlägt Alarm
Im August 2011 schickt die Niedersächsische Landesbehörde für Wasser-, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) eine Warnmeldung an das niedersächsische Umweltministerium (NMU). Sie geht davon aus, dass die Strahlung am Zaun des Zwischenlagers Gorleben Ende des Jahres 0,32 MilliSievert (mSv) betragen, auf jeden Fall aber den sogenannten Eingreifwert überschreiten wird.
Die NLWKN misst offiziell für das NMU die Strahlung am Zwischenlager Gorleben. Der zulässige Jahresgrenzwert beträgt 0,3 mSv. Der Eingreifwert von 0,27 mSv ist der Warnschwellenwert, ab dem die Behörden tätig werden müssen.
Der Jahresgrenzwert gilt unabhängig von der Anzahl der eingelagerten Castoren. Dabei geht man davon aus, dass die niedrigere Radioaktivität in den schon länger eingelagerten Behältern und die höhere in den neueren sich ausgleichen. Allerdings bleiben die Brennelemente heutzutage länger in den Reaktoren. Die Brennstäbe werden dabei stärker mit Uran-235 angereichert, der höhere Abbrand führt zu höherer Radioaktivität. Schon der Castortransport 2010 wies deshalb eine höhere Wärmeentwicklung auf als frühere Transporte.
Wie wird aus einer hohen eine niedrigere Strahlung?
Am 26. August erscheinen die ersten Medienberichte über die erhöhten Strahlenwerte. Die Öffentlichkeit ist aufgeschreckt. Die Betreiberin des Zwischenlagers, die Gesellschaft für Nuklear-Service (GNS), gibt noch am selben Tag eine Gegendarstellung heraus. Ihre eigenen Messungen hätten keine erhöhte Strahlung ergeben.
Am 30. August kündigt das NMU weitere Messungen an. Beauftragt wird die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB). Anfang September misst sie die Strahlung am Zwischenlager. Am 26. September informiert das NMU die Öffentlichkeit über die Ergebnisse. Mit einer Überschreitung des Jahresgrenzwerts sei nicht zu rechnen.
Greenpeace widerlegt das Umweltministerium
Greenpeace analysiert, wie es zu dieser Schlussfolgerung gekommen ist und stellt erhebliche Berechnungsfehler fest. Das NMU hat den Wert für die natürliche Hintergrundstrahlung erhöht und die Gammastrahlung ganz weggelassen. So kommen die Fachleute des NMU auf einen Dosiswert von 0,233 mSv bis Jahresende. Greenpeace-Berechnungen ergeben stattdessen, dass die Strahlung auch ohne weitere Einlagerungen über den zulässigen Grenzwert von 0,3 mSv steigen könnte. Das Ergebnis wird am 25. Oktober auf einer Pressekonferenz veröffentlicht.
Umweltminister Sander erhält drei Tage später einen offenen Brief von Greenpeace. Die Berechnungsfehler des NMU sind darin genau aufgelistet. Der Minister wird aufgefordert, Stellung zu nehmen und zu sagen, welche Konsequenzen er für den geplanten Castortransport 2011 ziehen will.
Der Castor soll rollen
Am 31. Oktober gibt das NMU bekannt, dass nichts gegen den geplanten Castortransport spreche. Von nun an geht das Genehmigungsprocedere seinen offiziellen Weg. Greenpeace erstattet Anzeige gegen den Umweltminister.
{image_r}Einen Greenpeace-Antrag auf Akteneinsicht lehnt das NMU mit Bescheid vom 8. November weitgehend ab. Ein überwiegendes öffentliches Interesse sei nicht zu erkennen, heißt es unter anderem in dem Schreiben. Auch die PTB lehnt es ab, ihre Messdaten herauszugeben. Diese seien geistiges Eigentum des Umweltministeriums, eine Weitergabe per Vertrag untersagt.
Zwei Gespräche im Umweltministerium in Hannover, davon eines am 15. November in großer Fachrunde, können die Ungereimtheiten rund um die Strahlenwerte nicht aufklären. Der politische Druck, der auf den Experten in dem Gespräch lastete, war deutlich hör- und spürbar, sagt Greenpeace-Kampagnengeschäftsführer Roland Hipp hinterher. Behördliche Vertreter nahmen ihre früheren Aussagen zurück. Die NLWKN wollte die eigenen Prognosen nicht mehr bestätigen.
Kein öffentliches Interesse?
Eine Umfrage des Emnid-Instituts, beauftragt von Greenpeace, ergibt eine klare Mehrheit der Bundesbürger gegen den Castortransport. Halten Sie die Frage der Überschreitung des Strahlengrenzwertes in Gorleben für hinreichend geklärt, um einen Castortransport verantworten zu können?, fragt Greenpeace. Von 1002 Befragten antworten 68 Prozent mit Nein. Selbst 59 Prozent der CDU-Wähler halten den Transport wegen der unterschiedlichen Angaben zu austretender Strahlung für nicht verantwortbar.
Der Castor kommt - legal? Illegal?
In der französischen Plutoniumfabrik La Hague bringt der Atomkonzern Areva am 14. November die ersten Castoren auf den Weg zum Verladebahnhof in Valognes. Es heißt, der Transport werde voraussichtlich am 24. November, um 14:20 Uhr in Richtung Gorleben starten.
In Deutschland nimmt auch die Debatte noch einmal Fahrt auf. Medienberichten vom 21. November zufolge halten Experten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags es für möglich, dass durch den zusätzlichen Atommüll im Zwischenlager Gorleben Strahlungsgrenzwerte überschritten werden. Die Auswertung der Landesregierung sei "wenig überzeugend" und "unwissenschaftlich". Der Castortransport hätte möglicherweise nicht genehmigt werden dürfen.