Interview: Schweinswalschutz ist Klimaschutz
Wie geht Klimaschutz ohne Artenschutz? Gar nicht, sagen Greenpeace-Expertinnen Franziska Saalmann und Sandra Hieke anlässlich der Klimakonferenz COP27, auf der es auch um Artenschutz geht.
- Im Gespräch
In den vergangenen Jahren haben Politik und Medien endlich angefangen, sich verstärkt mit dem Thema Klimaschutz zu befassen. Doch ein anderes immenses Problem erfährt politisch, trotz mancher erschrockener Berichterstattung über Bienensterben und Todeszonen in Meeren, weiterhin kaum Beachtung: die Artenkrise.
Wie unwichtig die Politik die Artenkrise im Vergleich zur Klimakrise findet, zeigt bereits die Gästeliste der beiden großen UN-Konferenzen in diesem Jahr. Am Weltklimagipfel COP27 in Ägypten nehmen rund 100 Staats- und Regierungschef:innen teil, am Weltnaturgipfel COP15 gibt es bisher kaum bestätigte Teilnahmen der Staatsoberhäupter. Dabei sterben täglich über 150 Tier- und Pflanzenarten aus, Millionen sind bedroht. Und dieser Artenverlust befeuert auch die Klimakrise weiter. Greenpeace hat heute eine Studie veröffentlicht, wo in Europa Biodiversität zu wenig Schutz erfährt - die folgende interaktive Karte bietet eine Übersicht.
Meeres-Expertin Franziska Saalmann und Wald-Expertin Sandra Hieke von Greenpeace erklären im Interview, warum wir Schweinswale und Buchenwälder schützen müssen, auch um den Kampf gegen die Klimakrise gewinnen zu können.
Greenpeace: Meer und Wälder – zwei unterschiedliche Ökosysteme, die beide unter dem Artensterben leiden. Was sind konkrete Beispiele aus Deutschland?
Meeres-Expertin Franziska Saalmann: Nehmen wir den Schweinswal in der Nord- und Ostsee. Das ist die einzige in Deutschland heimische Walart. Schweinswale sind in Deutschland und der EU über die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie – kurz FFH – theoretisch streng geschützt, trotzdem ist die Walart in einigen Gebieten fast ausgerottet.
Die größte Gefahr ist die intensive Fischerei, tausende von Tieren verfangen sich jährlich in Kiemennetzen oder sterben bei Unfällen mit Schiffen. Jetzt kommt eine weitere Bedrohung hinzu: Die niederländische Firma ONE-Dyas will an einem Hotspot für Schweinswale in der Nordsee vor Borkum ein neues Unterwassergasfeld erschließen. Die Gasbohrungen und der erhöhte Schiffsverkehr würden den Lebensraum durch Lärm und Schmutz verpesten – und das, obwohl das potenzielle Gasfeld in einem FFH-Schutzgebiet und in unmittelbarer Nähe zum Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer liegt.
Man könnte jetzt vielleicht denken: Moment, wir stecken doch mitten in einer Energiekrise, ist das dann nicht vielleicht vertretbar? Nein. Dieses Gas hilft uns in der aktuellen Energiekrise nicht weiter, denn: Die Firma könnte das Gas frühestens Ende 2024 anbieten und es könnte nur rund ein Prozent unseres jährlichen Gasverbrauchs decken. Bewilligt wurde die Förderung schon für ganze zwei Jahrzehnte – obwohl wir weg von fossilen und hin zu erneuerbaren Energien müssen. Dieses Projekt ist also im doppelten Sinn eine Katastrophe: Es zerstört einen wertvollen, geschützten Lebensraum und fördert fossile Energien.
Wald-Expertin Sandra Hieke: Ein anderes Beispiel: Wir waren in einem wunderschönen alten Buchenwald im thüringischen Hainich. Ein solcher Wald ist ein Hotspot für Artenvielfalt, mit Tausenden von Pflanzen-, Käfer-, Vogel- und Säugetierarten. Deshalb gehört er auch zu einem europäischen Netzwerk aus Schutzgebieten, einem FFH-Gebiet. Die kleine Hufeisennase, eine in Deutschland vom Aussterben bedrohte Fledermausart, lebt beispielsweise in solchen Wäldern. Aber anstatt hier der Natur Schutz zu bieten, werden massenhaft Bäume gefällt. Der Hainich ist sozusagen ein Schutzgebiet ohne Schutz für den Wald und seine Bewohner. Besonders absurd: Als Spaziergänger:in hat man in Schutzgebieten häufig jede Menge Verbote zu respektieren, aber die Sägen dürfen in den meisten Schutzgebieten die Bäume plätten. Und das nennen wir Waldschutz!
Greenpeace: Also gibt es nicht genug Schutzgebiete?
Meeres-Expertin Franziska Saalmann: Es gibt viele Pseudo-Meeresschutzgebiete wie die oben erwähnten FFH-Gebiete. Aber es fehlt an wahren Schutzgebieten, die nicht befischt und befahren werden dürfen. Nur rund 0,01 Prozent der Gesamtfläche der Nord- und 0,25 Prozent der Ostsee sind strikt geschützt.
Wald-Expertin Sandra Hieke: In den Wäldern haben wir genau das gleiche Problem. Zwar sind 67 Prozent der Wälder offiziell geschützt, aber nur in 2,8 Prozent dürfen keine Bäume gefällt werden. Die oben genannten Beispiele aus Meeren und Wäldern zeigen, dass der Schutz in Schutzgebieten oft lächerlich gering ist.
Wale und Buchenwälder: Wo Deutschland seine Natur im Stich lässt
Greenpeace: Für die Politik hat Klimaschutz Vorrang vor Natur- und Artenschutz. Was ist die wichtigere Baustelle?
Wald-Expertin Sandra Hieke: Wir können das nicht unabhängig voneinander betrachten, denn ohne Naturschutz gibt’s keinen Klimaschutz. Ein Beispiel: Im Kampf gegen die Klimakrise brauchen wir intakte Wälder, um CO2 aufzunehmen und zu binden. Rund zwei Drittel aller an Land lebenden Arten leben in Wäldern. Wenn wir Wälder erhalten und vor der Zerstörung bewahren, tun wir also gleichzeitig etwas für den Erhalt der Artenvielfalt auf dem Planeten wie gegen die Klimakrise.
Wir sollten nicht vergessen, dass wir auf die Natur angewiesen sind, denn wir sind alle miteinander verbunden – bis hin zum kleinsten Insekt: Ohne Insekten keine Bestäubung, ohne Bestäubung kein Essen, so einfach ist das. Deshalb müssen wir dringend mehr Lebensräume schützen – selbst für Insekten, auch wenn sie für viele nicht Sympathieträger Nummer eins sind.
Meeres-Expertin Franziska Saalmann: Der Schweinswal hingegen ist auf jeden Fall Sympathieträger! Aber er ist nicht nur süß anzusehen, sondern auch wichtig für das Ökosystem. Wale gehören zu den sogenannten Schlüsselarten, das heißt: Sie stehen an der Spitze der Nahrungspyramide und halten zum einen die Populationen ihrer Beutetiere gesund, indem sie vor allem alte und schwache Tiere fressen. Zum anderen verhindern sie eine zu starke Vermehrung dieser Arten – was dem gesamten Ökosystem schaden würde. Ihr Verschwinden bringt die natürliche Balance im Meer durcheinander. Grundsätzlich kann man sagen: Ist die Schweinswalpopulation stabil, geht es dem Meer gut. Und wenn es dem Meer gut geht, ist einerseits eine unserer Lebensgrundlagen gesichert. Andererseits kann ein gesundes Meer die Auswirkungen der Klimakrise mildern, indem es z. B. mehr CO2 aufnimmt.
Ein weiterer Zusammenhang ist das geplante Gasfeld im Schweinswal-Lebensraum vor Borkum: Wenn wir schaffen, es mit Hilfe strengerer Schutzgebiete zu verhindern, schützen wir auch das Klima. Die Regierung hat sich verpflichtet, bis 2030 65 Prozent weniger Treibhausgase gegenüber 1990 ausstoßen. Das erreichen wir nicht, wenn wir jetzt neue Gasfelder erschließen und jahrzehntelange Verträge eingehen. Schützen wir den Lebensraum der Schweinswale, schützen wir also auch das Klima.
Greenpeace: Was muss passieren, damit die Artenvielfalt und die Natur besser geschützt werden?
Wald-Expertin Sandra Hieke: Die Bundesregierung sollte sich einerseits auf der bevorstehenden Weltnaturkonferenz für ein starkes Rahmenprogramm zum Erhalt der Artenvielfalt weltweit einsetzen. Aber auch in Deutschland muss endlich etwas in Sachen Naturschutz passieren: Mindestens 15 Prozent der Wälder und Meere in Deutschland sollten vor industriellen Eingriffen geschützt werden – das wäre ein großer Schritt in die richtige Richtung. Damit hätten bedrohte Arten die Möglichkeit, sich zu erholen. Außerdem sollte die Bundesregierung die Artenkrise zur Chefsache machen. Umweltministerin Steffi Lemke reist zur Natur-COP nach Kanada. Es wäre ein starkes und wichtiges Zeichen, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz auch teilnehmen würde.
Meeres-Expertin Franziska Saalmann: Ein weiteres wichtiges Stichwort ist die Kreislaufwirtschaft. Aktuell ist es doch so: Zu viele Wälder werden für Wegwerfprodukte wie Pappkartons oder Klopapier gefällt oder sogar direkt verheizt; zu viele Einweg-Plastikprodukte hergestellt, die wiederum unsere Meeren vermüllen und in Form von Mikroplastik in den Fischen und letztendlich wieder auf unseren Tellern landen. Die Politik muss dringend handeln und zu einem System der Wiederverwendung und Langlebigkeit kommen. Aber auch wir können unseren eigenen Konsum hinterfragen. Brauchen wir wirklich das nächste Smartphone, das zehnte T-Shirt aus dem Versandhandel, den täglichen Coffee to go aus dem Pappbecher, schon wieder ein Steak und am Meer das Fischbrötchen? Jeder Schritt auf dem Weg zu nachhaltigerem Konsum schützt Biodiversität, Klima - und oft ganz nebenbei auch noch den Geldbeutel.
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