Interview zum Ukraine-Krieg: “Der Mut der Menschen ist bewundernswert”
- Im Gespräch
Der russische Truppenaufmarsch war doch nicht nur Drohkulisse, das Unfassbare ist wahr geworden: Mitten in Europa herrscht Krieg. Am 24. Februar 2022 begann die russische Armee ihren breit angelegten Angriff auf die Ukraine: Von drei Seiten rückten Kolonnen von Panzern und Soldaten vor, von Belarus im Norden in Richtung Kiew, von Russland aus nach Westen und von der Krim nach Norden, und bringen seitdem Tod und Zerstörung in das Land.
Im Interview erklärt Martin Kaiser, geschäftsführender Vorstand von Greenpeace Deutschland, wie Greenpeace die aktuelle Lage bewertet, welche Hoffnungen er auf die neue Friedensbewegung setzt, welche Hilfe die Umweltorganisation jetzt leistet, welche Gefahr von den ukrainischen Atomanlagen ausgeht und wie Greenpeace nun zur Nuklearen Teilhabe steht.
Greenpeace: Der 24. Februar 2022 wird wohl einer jener Schock-Marker in der Erinnerung der Europäer bleiben. Wie hast du ganz persönlich diesen Moment erlebt?
Martin Kaiser: Wir alle werden uns immer erinnern, wie wir von diesem Krieg zuerst erfahren haben, wer es uns gesagt und wir uns in diesem Moment und an diesem Tag gefühlt haben. Ich habe mit meiner 80-jährigen Tante telefoniert, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Es war sehr eindrücklich, wie sie meinte, dass sie in Kriegszeiten zur Welt kam und sich immer gewünscht hatte, dass meine Generation und die meiner Kinder so etwas wie Krieg nie mehr erleben sollten.
Wie bewertet Greenpeace Putins Angriff auf die Ukraine?
Wir sind hier ganz klar und lehnen die Militäraktionen ab, die die russische Regierung unter Putins Führung auf dem Territorium der Ukraine durchführt. Ein Angriffskrieg verletzt das Völkerrecht und muss umgehend untersucht werden. Krieg ist weder mit dem Leben, mit der Würde noch mit den Grundprinzipien der Menschlichkeit vereinbar. Krieg ist eine humanitäre Katastrophe, die Menschen in der Ukraine leiden, ihnen werden unsägliche Schmerzen zugefügt und viele von ihnen sterben. Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts können nicht mit kriegerischen Auseinandersetzungen gelöst werden. Wir halten die Anwendung von Gewalt zur Lösung politischer Konflikte für unmenschlich. Wir verurteilen den unprovozierten und illegalen Krieg, den die russische Regierung in der Ukraine führt, und fordern Präsident Putin auf, seine Truppen unverzüglich zurückzuziehen und das Feuer einzustellen.
Greenpeace hat PEACE im Namen. Sieht sich Greenpeace als Teil einer neuen Friedensbewegung?
Ja! Greenpeace ist ja in diesem Kontext vor 50 Jahren entstanden, nicht umsonst ist FRIEDEN Teil unseres Namens und somit auch Teil unserer DNA. Die aktuelle Situation, die Fassungslosigkeit, vor der wir alle stehen, die Solidarität mit der Ukraine und die Angst treibt Tausende Menschen zu Friedens-Demos auf die Straße.
Die große Solidarität der Weltgemeinschaft, die wir jetzt erleben, ist natürlich dem Moment geschuldet, der die Menschen zusammenrücken lässt. Trotzdem glaube ich, dass auch nach diesem Schock die Friedensbewegung gestärkt zurückbleiben wird. Es muss jetzt und in Zukunft wachsam begleitet werden, dass wir nicht wieder in eine Rüstungsspirale rutschen.
Schon vor diesem Krieg stiegen die Militärhaushalte weltweit Jahr für Jahr, Atomwaffen und ihre Trägersysteme wurden modernisiert und vollkommen neue Waffentechnologien entwickelt. Dazu kommt, dass die Erderhitzung zu neuen Konflikten und Kriegen führt und in Zukunft verstärkt führen wird, wenn wir nichts tun. Es gibt viel zu tun für eine neue Friedensbewegung.
Menschen auf der ganzen Welt fürchten im Moment zu Recht die akute nukleare Bedrohung. Die Antwort darauf kann nur nukleare Abrüstung sein. Ob diese Utopie aber in naher Zukunft Realität werden kann, bezweifle ich.
Hat Greenpeace auch ein Büro in der Ukraine und wie geht es den Menschen dort?
In der Ukraine nicht, aber in Polen, der Slowakischen Republik, Tschechien, Rumänien und in Russland. Soweit wir wissen, geht es allen gut und sie leisten ihren Beitrag, um die Zivilbevölkerung in der Ukraine zu unterstützen, wo sie nur können. Und natürlich gibt es Umweltaktivist:innen in der Ukraine, die jetzt vom Krieg bedroht sind. Vor allem auch unsere Kolleginnen und Kollegen in Russland arbeiten derzeit unter ganz besonders schwierigen Umständen. Sie sind Teil der zivilgesellschaftlichen Widerstandsbewegung gegen Putin und daher tatsächlich konkreten Gefahren ausgesetzt. Ich kann nicht beschreiben, welche Hochachtung ich vor dem Mut unserer Freundinnen und Freunde habe.
Der Zusammenhalt unter den Menschen ist ja im Moment absolut beeindruckend. Egal, ob das die tapferen Menschen in der Ukraine selber sind, die Menschen, die sich in Russland mutig gegen den Krieg stellen und Verhaftung und Repressalien riskieren oder all die Helfer entlang der Flüchtlingsrouten: es ist berührend, es ist mutmachend. Und umso wütender und fassungsloser bin ich über diese sinnlose Zerstörung mit Toten, Verletzten, Vertriebenen und Verängstigten, die dieser Krieg mutwillig über die Ukraine gebracht hat.
Greenpeace ist ja eine Umweltorganisation. Leistet ihr und eure Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch humanitäre Hilfe?
Selbstverständlich. Greenpeace lebt vom Engagement all unserer Ehrenamtlichen, Hauptamtlichen und unserer Unterstützer:innen. Wenn Menschen Hilfe brauchen, kommt auch hier das große Engagement all dieser Leute zum Tragen. Wir kämpfen für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen – Krieg zerstört diese. Deswegen sind wir natürlich bereits mittendrin, Hilfe vor Ort zu leisten. Wir organisieren aber auch niedrigschwellige Angebote direkter und unbürokratischer Hilfeleistungen für all die Menschen in Deutschland, die sich Greenpeace zugehörig fühlen und jetzt helfen möchten.
Und wie sieht das konkret aus?
Im Moment sind wir mit einem Konvoi, beladen mit Hilfsgütern, unterwegs an die ukrainische Grenze. Damit sollen Menschen, die vor diesem Krieg flüchten mussten, mit einer Grundausstattung versorgt werden, die ihnen die Ankunft in einer fremden Umgebung erträglicher macht. Deswegen versuchen wir, ganz akute Bedarfe abzudecken, indem wir Feldbetten, Zelte und Generatoren für Wärme und Strom an die Grenze bringen. Zusätzlich arbeiten wir auch mit der Organisation cadus.org zusammen. Wir beladen Fahrzeuge mit Medikamenten und medizinischem Material, und sind auf dem Weg zu den Ankommenden.
Zudem machen wir darauf aufmerksam, dass Ankommende in Deutschland vor allem Wohnraum brauchen und unterstützen daher die Plattform https://www.unterkunft-ukraine.de. Auf dieser mehrsprachigen Plattform können sich sowohl Menschen eintragen, die Geflüchtete aufnehmen und eine sichere Unterkunft zur Verfügung stellen, aber eben auch Flüchtende, die auf der Suche danach sind. Wir sind sicher, dass sich hier zahlreiche Unterstützer:innen und Mitarbeitende engagieren werden. Unsere Mitarbeiter:innen sind sehr kreativ, sehr engagiert und starten auch dezentral zahlreiche Initiativen. Wir alle schöpfen dabei auch aus unserem Erfahrungsschatz aus den Jahren 2015 und 2016. Damals waren es Menschen, die aus Syrien zu uns kamen, jetzt kommen sie aus der Ukraine. Ihre Ängste, Bedürfnisse und Traumatas sind aber die selben. Denn Hautfarbe und Herkunft dürfen auch bei heutigen Fluchtrouten keine Rolle spielen: Krieg ist Krieg. Und wenn irgendwo Menschen das Weiterleben so erschwert wird, dass sie fliehen müssen, muss man ihnen helfen.
Wie schätzt Greenpeace denn die Gefahr einer nukleare Bedrohung ein?
Ich mache mir große Sorgen. Denn die nukleare Bedrohung besteht ja aus mehreren Aspekten: Zum einen können die Kampfhandlungen Atomanlagen und Atomkraftwerke in Mitleidenschaft ziehen – mit radioaktiver Verseuchung in ganz Europa wie wir sie seit Tschernobyl und Fukushima kennen. Zum zweiten könnten “kleine” taktische Atombomben in der Ukraine zum Einsatz kommen und als drittes steht Putins Drohung eines etwaigen Atomschlags mit strategischen “großen” Atombomben im Raum.
Gerade die Situation der Atomanlagen haben unsere Experten und Expertinnen in den Länderbüros fest im Blick und setzten sich auf wissenschaftlicher Basis mit dem Thema auseinander. Was den Einsatz von Atombomben angeht – wie hoch das Risiko eines nuklearen Angriffs wirklich ist, ist schwer abzuschätzen. Ich persönlich hoffe einfach, dass die russische Regierung nicht das Risiko eines nuklearen Schlagabtausches und damit der Auslöschung unserer Zivilisationen eingehen wird.
Eine Reaktion der deutschen Politik auf den Krieg war, den Verteidigungsetat massiv aufzustocken. 2022 soll dazu Sondervermögen von 100 Milliarden Euro geschaffen werden, zudem sollen jährlich in Zukunft zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes in die Verteidigung investiert werden. Wie steht Greenpeace dazu?
Es ist geradezu eine Reflexhandlung, aufzurüsten, wenn der Krieg so nahe kommt. Fakt aber ist: Die Bundeswehr hat heute schon den siebtgrößten Militäretat weltweit; seit 2014 wurden die Ausgaben dabei von 32 Milliarden auf rund 47 Milliarden im letzten Jahr angehoben. Dass wir immer wieder Berichte hören, dass dieses oder jenes fehlt, liegt nur sehr bedingt an einer fehlenden Finanzierung. Die Bundeswehr wurde ein paar Jahre lang zu einer weltweiten Einsatzarmee umgebaut, also zu einer Armee, die in Afghanistan oder in Mali kämpfen kann.
Seit der russischen Annexion der Krim soll sie nun auch wieder Landes- und Bündnisverteidigung “können”. Dass für Letzteres nun Material fehlt, liegt einfach daran, dass man vorher andere Prioritäten gesetzt hat. Dazu kommt: Das Beschaffungswesen der Bundeswehr ist dysfunktional – in manchen Jahren hat man das Geld nicht einmal ausgegeben bekommen, das der Bundestag bewilligt hatte. Ohne klare Ausrichtung der Sicherheitspolitik und einer Reform der Beschaffung wird man Milliarden über Milliarden verschwenden.
Das ist jetzt sehr technisch gewesen, zeigt aber schon einige der grundsätzlichen Probleme. Noch viel wichtiger ist, dass ich es nicht richtig finde, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion und ohne Debatte eine solch gigantische Summe mal eben durchzuboxen. Ich hoffe sehr auf den Bundestag, dass dort mit kühlem Kopf darüber nachgedacht wird. Darüber, was jetzt konkret hilft, den Krieg zu beenden, und darüber, ob Deutschland damit nicht einen massiven Beitrag zur weltweiten Rüstungsspirale leistet. Und es ist doch klar, Deutschland muss parallel und mit Investitionen seine Importabhängigkeit von Gas, Öl und Kohle sehr schnell beenden, um seine Erpressbarkeit zu beenden. Um das aber nochmal ganz klar zu sagen: Greenpeace lehnt dieses absurde Aufrüstungsprogramm ab.
Apropos Waffen: Greenpeace hat sich immer dafür eingesetzt, dass Deutschland keine Waffen in Kriegsgebiete liefert. Nun schickt Deutschland Panzerabwehrwaffen und Boden-Luft-Raketen in die Ukraine – wie steht Greenpeace dazu?
Greenpeace hat eine Tradition unbedingter Gewaltfreiheit und kämpft seit Jahren gegen Waffenexporte in Kriegs- und Krisengebiete, gerade weil empirisch nachgewiesen ist, dass die Zufuhr von Waffen Kriege verlängert und Verhandlungslösungen erschwert. Gleichzeitig erkennen wir aber das Recht auf Selbstverteidigung nach der Charta der UN an. Und da in diesem Fall Russland ganz klar einen ungerechtfertigten Angriffskrieg auf die Ukraine begonnen hat, verstehen wir die moralischen Beweggründe, aus denen die Bundesregierung gehandelt hat.
Allerdings sind wir sind der Auffassung, dass die friedlichen Mittel, die Deutschland zur Verfügung stehen, um den Druck auf Russland zum Rückzug zu erhöhen, bei Weitem nicht ausgeschöpft sind. Ein Importstopp von russischem Erdöl und Erdgas würde zum Beispiel Russland signifikante Einnahmen für die Kriegsführung vorenthalten. Auch die Sicherstellung der Vermögenswerte russischer Oligarchen, die den Kurs der russischen Führung unterstützen, bringt umso mehr, je umfassender sie durchgeführt wird.
Was ist mit der nuklearen Teilhabe? Die hat Greenpeace stets verurteilt. Mit einem Aggressor, der offen mit einem Atomkrieg droht, hat sich da die Meinung geändert?
Nein, das hat sie nicht und das wird sie auch nicht. Nukleare Teilhabe heißt: In Deutschland lagern geschätzt 15 bis 20 US-amerikanische Atombomben, die deutsche Pilot:innen im Falle eines Falles zu ihrem Einsatzort fliegen müssten. Greenpeace engagiert sich gegen Atomwaffen seit seiner Gründung 1971. Atomwaffen sind Massenvernichtungswaffen – weder Besitz noch Gegendrohung, geschweige denn ein Einsatz werden wir jemals gutheißen.
Der jetzige Krieg verdeutlicht vielmehr, wie dringend nötig die weltweite atomare Abrüstung ist. Solange Atomwaffen existieren, lebt die Menschheit unter dem Damokles-Schwert der nuklearen Vernichtung. Wir brauchen atomare Abrüstung! Die Bundesregierung sollte daher unbedingt den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnen – nicht trotz, sondern weil nun mit dem Einsatz dieser Waffe gedroht wird und damit der atomare Schlagabtausch nahe kommt.
Die Situation in der Ukraine muss der Weckruf an die Weltgemeinschaft sein, Atomwaffen zu verbieten, damit niemand mehr im Schatten seines Nukleararsenals Nachbarländer überfallen kann. Ich hoffe, dass es dazu kommt. Ich hoffe auch, dass sich das Bewusstsein der Menschen hier in Europa dahingehend schärft, wie wichtig und wertvoll das Prinzip der Demokratie, aber auch der Menschenrechte ist. Und natürlich hoffe ich – obwohl das gerade schwierig ist – dass einfach bald wieder Frieden herrscht. Denn nur in einer friedlichen Welt werden wir es schaffen, die Lebensgrundlagen für alle zu sichern.