Wackersdorf - Erinnerungen an den Ausnahmezustand
- Hintergrund
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Deutschland in den 80ern: Die Bundesrepublik wurde aus Bonn regiert, Kanzler war Helmut Kohl und die Demokratie wurde in einem kleinen Ort in der Oberpfalz gegen Störer und Chaoten verteidigt. Der Name des Ortes: Wackersdorf.
Wackersdorf stand nicht nur für die Wiederaufarbeitungsanlage, die dort im Bau war, sondern zeitweise auch für bürgerkriegsähnliche Zustände und eine beispiellose Aushöhlung von Bürgerrechten. Bei den jahrelangen Protesten gegen die WAA gab es hunderte Verletzte und drei Tote. nach dem tod des jahrelangen befürworters und Bayerischen ministerpräsident Franz Josef Strauß verkündete dessen Nachfolger Max Streibel im April 1989 zusammen mit der Atomindustrie überraschend das überraschende Aus für die Anlage.
Zuvor sind ein knappes Dutzend anderer Standorte verworfen worden, darunter auch Gorleben, wo Ministerpräsident Ernst Albrecht 1979 eine WAA zusätzlich zum geplanten Endlager nach dem Widerstand aus der Region für politisch nicht durchsetzbar hielt. Es hätte Frankenberg in Nordhessen treffen können, Aschendorf im Emsland, Unterlüß in der Lüneburger Heide, Verden an der Aller oder Dragehn, nur 26 Kilometer von Gorleben entfernt. Das hessische Volkmarsen war Anfang der 1980er genauso im Gespräch wie Merenburg-Waldbrunn an der Lahn und Kaisersesch an der Mosel. Es wurde Wackersdorf.
1981 verkündet die bayerische Staatsregierung unter Franz-Josef Strauß erste Pläne für die WAA in Wackersdorf, die nicht gefährlicher als eine Fahrradspeichenfabrik werde (Strauß) und sichert eine rasche und ungestörte Realisierung des Projektes zu. Nur wenige Tage später gründet sich in Schwandorf die erste Bürgerinitiative gegen das Projekt.
Es dauert bis 1985, bis sich die Deutsche Gesellschaft für die Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK), ein Zusammenschluss der zwölf größten Energieversorger der BRD, endgültig für Wackersdorf entscheidet. Kritische Stimmen aus der Lokalpolitik gibt es zu Beginn kaum, schon gar nicht aus der CSU. König Franz-Josef regiert. Außerdem erhält die Stadtkasse bereits vorab nicht unerhebliche Summen als zinslose Vorauszahlung für zukünftig zu erwartende Gewerbesteuer. Lediglich der SPD-Landrat Hans Schuierer weigert sich, trotz Weisung aus München, die Pläne für die Anlage zu unterschreiben. Die Landesregierung ändert daraufhin das Verwaltungsrecht, um in solchen Fällen von oben durchzuregieren (Lex Schuierer) und überzieht den Landrat mit Disziplinarverfahren.
Am 11. Dezember 1985 gegen 9:30 Uhr fielen die ersten Bäume auf dem gut 100 Hektar großen Baugelände im Taxöldener Forst. So begannen die Bauarbeiten. Entstehen sollte dort die weltweit größte Wiederaufarbeitungsanlage für abgebrannte Brennstäbe. Geplant war, später jährlich rund 500 Tonnen Atommüll "behandeln" und zu neuen Brennelementen formen zu können.
Legal? Illegal? Scheißegal.
Peinlich wurde es allerdings für die Bauherren, als die 1. atomrechtliche Teilerrichtungsgenehmigung im April 1987 per Gerichtsbeschluss aufgehoben wurde und ein Dreivierteljahr später auch der Bebauungsplan wegen zahlreicher vorgenommener Änderungen für rechtswidrig und nichtig erklärt wurde. Die DWK und die bayerische Staatsregierung focht jedoch auch das nicht an: Man baut weiter. Mit Baurecht, als handele es sich um eine Reihenhaussiedlung. denn die zeit drängte: Bereits im Jahr 1992 hätten die ersten Brennelemente eintreffen sollen.
1986 explodierte im ukrainischen Tschornobyl ein Atomkraftwerk. Tausende Menschen starben, hunderttausende mussten ihre Heimat für immer verlassen. Die radioaktive Wolke zog um die ganze Welt - überall waren die Menschen verunsichert, der Glaube an die Atomkraft bekam einen jähen Riss. Der Widerstand gegen diese Hochrisikotechnologie schoss in die die Höhe.
Gegen die 2. Teilerrichungsgenehmigung gingen bis 1987 - es ist das Jahr nach Tschernobyl - 881.000 Einsprüche ein, so viele wie nie vorher oder nachher in einem Verfahren. Im bayerischen Umweltministerium schuf man 50 Stellen, um der Papierflut Herr zu werden. Ein großer Anteil kam aus dem nur 130 Kilometer von Wackersdorf entfernten Österreich, wo selbst die Politik alles andere als erbaut war über den Bau der Anlage. Im Falle eines Störfalls sahen sich die Österreicher direkt betroffen.
Die anschließende Anhörung der Gegner wurde allerdings zur kompletten Farce. Nicht nur, weil diese vom bayerischen Umweltministerium nach fünf Wochen für beendet erklärt wurde, ohne dass auch nur annähernd alle Einwender ihre Argumente hätten vorbringen können. Wobei hochkarätige Wissenschaftler mit ihrer Sachkenntnis die DWK-Vertreter ein ums andere Mal in Argumentationsnot brachten. Auch weil die Kumpanei zwischen Staatsregierung und DWK so offensichtlich war, dass man sich fragen musste, warum sie dieses Volkstheater überhaupt veranstalteten. Die Genehmigung wurde selbstverständlich trotzdem erteilt, der Bau ging weiter. Und nichts schien ihn aufzuhalten zu können.
Das Aus
Der breite Widerstand aus dem gesamten Bundesgebiet - Slogan "Wackersdorf ist überall" - drohte den Zeitplan der Bauarbeiten zu gefährden, die Kosten liefen aus dem Ruder. Zuletzt wurden zehn Milliarden Mark Baukosten veranschlagt, ursprünglich geplant waren sechs Milliarden. trotzdem schien nichts den Atomwahnsinn stoppen zu können.
Bis zum April 1989. Denn da verkündete plötzlich die Veba, der größte Atomstromproduzent des Landes, dass man es sich anders überlegt habe. Man könne viel Geld sparen, wenn man den Müll in der französischen WAA La Hague behandeln liese, zu einem Drittel der Kosten, die für Wackersdorf veranschlagt waren. Die Rede ist von jährlichen Einsparungen von 1,5 Milliarden Mark. Da fielen die schätzungsweise 2,5 Milliarden Mark, die man bereits in Wackersdorf investiert hatte, fast nicht mehr ins Gewicht. Die angeblich dringend notwendige nationale Wiederaufarbeitungsoption fiel letztlich der Buchhaltung der Energieversorger zum Opfer. Die düpierte CSU-Spitze - Franz-Josef Strauß war Ende 1988 gestorben, Bayern wurde inzwischen von Max Streibl regiert - grantelte. Dann wolle man in Wackersdorf überhaupt keinerlei Atomnutzung mehr. Das Gelände wurde zum Innovationspark Wackersdorf, auf dem sich unter anderem BMW ansiedelte.
Neben Geld mögen noch zwei weitere Gründe die Atomstrom-Beführworter:innen dazu gebracht haben, Wackersdorf aufzugeben: Ihr Ansehen hatte durch etliche Skandale um Korruption, Schlamperei und illegale Verschiebung von Strahlenmaterial rund um die Hanauer Firmen Nukem und Transnuklear, die Atompleite des Hochtemperaturreaktors Hamm-Uentrop und nicht zuletzt den Super-GAU in Tschernobyl erheblich gelitten. Sie wollten die in der Bevölkerung verhasste WAA loswerden, um gut Wetter zu machen. Außerdem waren sie sich nicht sicher, dass Helmut Kohl (CDU) die 1990 bevorstehenden Bundestagswahlen gewinnen würde und nicht etwa eine rot-grüne Regierung die Wiederaufarbeitung kurzerhand abschaffen oder durch intensive Kontrollen verkomplizieren würde.
Der radioaktive Zerfall der Freiheit
Die WAA Wackersdorf wurde in den Jahren 1985 bis 1988 ein Kristallisationspunkt für den Protest gegen den Atomstaat. Nur wenige Tage nach Baubeginn errichteten Demonstranten auf dem Baugelände ein erstes Hüttendorf, das zwei Tage später unter großem Polizeiaufgebot geräumt wurde - nur um Platz zu machen für ein zweites Hüttendorf, das immerhin knapp drei Wochen stand. Schnell wurde Wackersdorf zum Zentrum für Umweltdemonstrationen. Ostern 1986 demonstrierten 100.000 Menschen gegen die WAA, die größte Umweltdemonstration bis zu diesem Zeitpunkt. Die Polizei setzte erstmals "gegen die Chaoten", so das Wording, Reizgas ein. Dabei demonstrierte keineswegs nur der Schwarze Block, sondern es gab einen tief konservativen Widerstand aus der einheimischen Bevölkerung gegen das Projekt, getragen von Kirchen, Naturschützern, Bauern.
An Pfingsten 1986 eskalierte die Gewalt. Während Autonome immer wieder Löcher in den inzwischen errichteten Bauzaun sägten und die Polizei mit Schleudern und Molotovcocktails herausforderten, reagierte die Polizeiführung mit massivem Schlagstockeinsatz und dem Abwurf von Reizgas aus Hubschraubern, das auch die eigenen Leute am Boden schlucken mussten. Eine Demonstrantin starb an einem Herzinfarkt, ein Demonstrant an einem tödlichen Asthmaanfall, ein Polizist beim Absturz eines Hubschraubers. Es gab 400 Verletzte. In der Folge wurden Demonstrationen verboten und der Einsatz von Gummigeschossen sowie die Beteiligung der Bundeswehr und der GSG9 diskutiert, jedoch nie umgesetzt. Das bayerische Polizeigesetz wurde geändert, damit Demonstranten vorsorglich bis zu 14 Tage in Gewahrsam genommen werden können (Lex Wackersdorf).
Die Einschüchterungstaktik beschränkte sich jedoch nicht auf kommende Demonstrationen. Bekannte WAA-Gegner in der Region wurden generell observiert, Bauern, die für auswärtige Demonstranten Schlafplätze zur Verfügung stellten, wurden Opfer von Hausdurchsuchungen. Ständig kreisten Polizeihubschrauber über der Region, dauernd waren Kolonnen von Polizeifahrzeugen unterwegs, Fahrzeug- und Personenkontrollen waren tägliche Routine.
Jahrelang war die Region im Ausnahmezustand. Doch die Kriminalisierung des gesamten Widerstands führte zur Verbrüderung der eher konservativen Dorfbewohner mit den radikalen Städtern: Gamsbart tragende Bayern reichten den vermummten Städtern plötzlich Steine, Bäuerinnen mit Kopftuch zogen mit Sägen zum Bauzaun. Für den Staat wurde es dadurch immer schwerer, diese Menschen in die Gruppe der linken Chaoten und Terror-Sympathisanten abzuschieben.
Atomkraft beerdigen
Die Erfahrungen aus Wackersdorf waren sicher ein Hauptgrund, warum die Energieversorger in Deutschland im Grunde kein Interesse an neuen Atomanlagen hatten. Der letzte Neubau Neckarwestheim 2 wurde ab 1982 gebaut und 1988 in Betrieb genommen.
Wackersdorf war eine der frühen Erfolge der Anti-Atombewegung. In diesem Sinne ein Vorläufer zum Aus des Endlagerstandortes Gorleben 2022 und nicht zuletzt des endgültigen Atomausstiegs in Deutschland am 15. April 2023. Alles drei Beispiele dafür, dass manchmal Jahrzehnte an Engagement nötig sind, bis sich was ändert. Aber auch, dass Engagement zum Erfolg führen kann.
Erstveröffentlichung: 15. Mai 2009