Greenpeace zieht Bilanz: Verkehrspolitik der Großen Koalition von 2013 bis 2017
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Kungelei mit der Autoindustrie statt Klima- und Gesundheitsschutz: Die Verkehrspolitik der Großen Koalition ist verheerend, so die Greenpeace-Bilanz.
Wann steigt Deutschland aus dem Verbrennungsmotor aus? Andere Länder wie Frankreich, England oder Norwegen haben sich festgelegt – die Bundesregierung hingegen scheut die Antwort. Warum? Weil die Große Koalition sich ihre Verkehrspolitik sehr oft von den Konzernen diktieren lässt, anstatt Mensch und Umwelt konsequent zu schützen. Zu diesem Ergebnis kommt Greenpeace in einer Bilanz der Verkehrspolitik der vergangenen vier Jahre. „Die CO2-Emissionen im Verkehr steigen wieder, die Luft in Städten ist flächendeckend schlecht, der Dieselskandal wird nicht konsequent aufgearbeitet“, erklärt Andree Böhling, Greenpeace-Experte für Verkehr. „Statt wirksamer Maßnahmen wurden wie zuletzt auf dem Dieselgipfel Scheinlösungen beschlossen, die vorwiegend den kurzfristigen Interessen der Industrie dienen.“
„Frau Merkel, wie lange noch?“, fragten Greenpeace-Aktivisten deshalb heute in den frühen Morgenstunden mit einer Projektion ans Bundeskanzleramt. Unter dem Schriftzug an der Fassade schimmerte eine in Autoabgase gehüllte Erdkugel. Die Aktivisten fordern einen Kurswechsel in der Verkehrspolitik. „Kanzlerin Merkel sollte den Menschen vor der Wahl sagen, wann Deutschland aus dem Verbrennungsmotor aussteigen soll, sonst ist ihre Positionierung wertlos“, so Böhling.
Denn die nächste Regierung hat einiges zu tun, um den Verkehrssektor zukunftsfähig zu machen. In den vergangenen Jahren, so die Greenpeace-Bilanz, hat die Große Koalition vieles versäumt: Sie investierte zu wenig in umweltfreundliche, moderne Mobilitätsangebote wie E-Autos, den Ausbau von gut vernetzten Radwegen und den öffentlichen Nahverkehr. Stattdessen wurden Milliardenprogramme für den Bau neuer Straßen und den Flugverkehr aufgelegt. Mit ihrer rückwärtsgewandten Politik gefährdet die Regierung den Industriestandort Deutschland und damit Tausende Arbeitsplätze.
Die ausführliche Greenpeace-Bewertung der Regierungskoalition finden Sie in diesem PDF; hier die Zusammenfassung:
Dieselskandal: Händchenhalten mit der Industrie statt Verbraucherschutz
67 Prozent der Bundesbürger sind laut ARD-Deutschlandtrend der Meinung, dass die Politik in der Dieselaffäre zu nachsichtig mit der Autoindustrie umgeht. Kein Wunder. Während VW in den USA circa 18 Milliarden Euro Entschädigung an Kunden zahlen muss, stellt sich Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) hierzulande schützend vor die Automobilkonzerne und verhindert Sammelklagen. Ganz zu schweigen davon, dass Dobrindt Jahre vor Aufdeckung des Dieselskandals bereits Hinweise über mögliche Abschaltvorrichtungen erhalten hat. Die Untersuchungskommission zur Aufklärung des Skandals bestückt er ausschließlich mit Freunden der Industrie – das Ergebnis ist dementsprechend wertlos.
Das Abschalten der Abgasreinigung bei Außentemperaturen von etwa 17 Grad Celsius lässt Dobrindt als Motorenschutz durchgehen. So verschmutzen Diesel, deren Schadstoffausstoß um ein Vielfaches über dem Grenzwert liegt, die Luft in deutschen Städten. Daran werden auch die Anfang August 2017 beschlossenen und mit der Industrie abgestimmten Softwareupdates nichts ändern: Sie sind nahezu wirkungslos.
Klimawandel: Verkehrssektor meilenweit vom Klimaziel entfernt
Der Treibhausgasausstoß im Verkehr ist seit 1990 unverändert hoch, in den vergangenen Jahren sogar leicht gestiegen – obwohl er doch sinken muss. Denn bis 2030 soll der Sektor laut Klimaschutzplan der Bundesregierung 40 bis 42 Prozent verglichen mit 1990 eingespart haben. Maßnahmen dafür sind nicht erkennbar.
Die eingeführten CO2-Grenzwerte haben sich nicht bewährt: Immer größere Autos haben Effizienzgewinne zunichte gemacht. Zudem hält auch beim CO2 kaum ein Fahrzeug den Wert auf der Straße ein. Um von den hohen Emissionen runterzukommen, ist eine umfassende Verkehrswende nötig: weg vom Verbrennungsmotor, hin zur E-Mobilität, weg vom Individualverkehr, hin zu Car-Sharing, öffentlichen Verkehrsmitteln und dem Ausbau von Radwegen.
Und was macht die Bundesregierung? Sie investiert weiter Milliarden in den Bau von mehr als 1000 neuen Straßen. Subventioniert Dieseltreibstoff jährlich mit sieben Milliarden Euro, Kerosin mit zehn Milliarden. Die Finanzierung nachhaltiger Mobilität ist abgesehen von einzelnen Prestigeprojekten nicht Bestandteil der Politik. Wie wenig ambitioniert die Regierung in dieser Hinsicht ist, zeigt auch die Kaufprämie für Elektroautos. Sie floppte.
Denn derzeit gehören E-Autos zur oberen Preiskategorie, ein Zuschuss von 4000 Euro ist somit für Wohlhabende interessant, aber nicht für die Masse der Autofahrer. Abgesehen davon ist ein Kaufanreiz für private PKW das falsche Mittel. Eine Verkehrswende funktioniert nur mit geteilter E-Mobilität in Form von Car-Sharing oder öffentlichem Nahverkehr.
Gesundheit: Lärm und Dreck in der Luft
Die EU klagt gegen 28 deutsche Städte, weil die Luft dort seit Jahren zu stark mit Stickoxiden belastet ist. Das Atemgift stammt vornehmlich aus Dieselfahrzeugen und führt laut EU-Umweltbehörde allein in Deutschland zu 10.000 vorzeitigen Todesfällen. Die Bundespolitik lässt die Städte auf dem Problem alleine sitzen. Mehr noch: Verkehrsminister Dobrindt torpedierte die im Bundesrat erwogene Einführung einer Blauen Plakette. Mit ihr könnten Städte gezielt Fahrverbote für dreckige Autos einführen – eine schnelle und sehr wirksame Maßnahme, die 57 Prozent der Bundesbürger unterstützen.
Verflechtungen: Kuschelkurs mit der Industrie
Der Einfluss der Autolobby auf die Politik ist zwar nicht neu, aber in dieser Legislaturperiode als Paradestück zu bestaunen: Mitten im Dieselskandal setzt sich die Bundesregierung in der EU dafür ein, dass geltende Schadstoffgrenzwerte für Diesel verwässert werden. Damit trägt sie dem Druck der Industrie Rechnung, ab Herbst 2017 realistischere Abgastests durchführen zu müssen, die zwangsläufig zu höheren Werten führen werden.
Sogenannte Seitenwechsler sind die Treiber in diesem Politikgeschacher: Dokumente und Mails belegen wie Eckhard von Klaeden, ehemaliger Staatsminister im Kanzleramt und jetziger Cheflobbyist von Daimler, zusammen mit dem Präsidenten der Deutschen Autoindustrie und ehemaligen Verkehrsminister Matthias Wissmann die Bundesregierung überredet, realistischere Abgastests zu verschieben.
Nicht zuletzt zeigt auch der enttäuschende Dieselgipfel Anfang August: Getan wird nur das, was der Autoindustrie nicht weh tut.
Industriestandort: Gefährdete Arbeitsplätze
Deutschland – Land der Autobauer. Gerade diesen Standort gefährdet die Regierungskoalition mit ihrer Weiter-wie-bisher-Mentalität. Großbritannien, Frankreich, Indien, Norwegen haben das Ende des Verbrennungsmotors beschlossen und verkündet. China setzt auf Bau und Entwicklung von E-Motoren. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, muss die Automobilindustrie auf umweltfreundliche Mobilität umsatteln – und so Arbeitsplätze sichern.
Die regierende Große Koalition ist verkehrspolitisch im letzten Jahrhundert steckengeblieben – die nächste Regierung muss in die Zukunft blicken. Ob verstopfte Straßen, zu hoher Flächenverbrauch, gesundheitsschädigende Stickoxide, Lebensqualität in Städten und nicht zuletzt der Klimawandel: Die Lösung all dieser Probleme liegt in einer umfassenden Verkehrswende.