Gemeinsam für die Bildungswende
- Im Gespräch
Am 23.09.2023 findet deutschlandweit der Bildungsprotesttag statt, um für ein gerechtes und nachhaltiges Bildungssystem zu protestieren. Greenpeace unterstützt den Protest und hat die Forderungen von Bildungswende Jetzt unterschrieben. Um welche Forderungen es genau geht und warum dieser Protest so wichtig ist, erklärt Greenpeace-Bildungsexpertin Stephanie Weigel.
Greenpeace: Deutschland steckt gerade in der größten Bildungskrise seit Gründung der Bundesrepublik. Wie konnte es dazu kommen?
Stephanie Weigel: Die Bildungskrise fällt nicht vom Himmel, sie ist eine Krise mit jahrzehntelanger Ankündigung. Man muss das leider ganz deutlich sagen: Bildung hat in Deutschland bei weitem nicht den politischen Stellenwert, den sie haben müsste. Die junge Generation mit den nötigen Kompetenzen auszustatten und sie auf die Herausforderungen vorzubereiten, die vor ihnen liegen – das gehört ganz oben auf die politische Agenda: die Bewältigung der Klimakrise, die Mitgestaltung einer friedlichen und gerechten Welt, des gesellschaftlichen Miteinanders. Das sind Herausforderungen, für die wir keine Blaupause haben. Die Schulen stehen vor Aufgaben, die sie mit der derzeitigen Ausstattung und ohne politische Unterstützung nicht bewältigen können. Hier ist politischer Gestaltungswille gefragt, das muss zur Chefsache gemacht werden. Die Misere, in der wir stecken, resultiert aus jahrzehntelangen bildungspolitischen Versäumnissen: Zukunftsthemen wurden vernachlässigt, die Finanzierung ist unzureichend, dem eklatanten Lehrer:innenmangel wurde nicht mit effektiven Lösungsansätze begegnet und die Bildungschancen sind immer noch alarmierend ungleich verteilt. Die Schere zwischen arm und reich bildet sich in den Schulabschlüssen eins zu eins ab.
Greenpeace: Was ist die Konsequenz dieser Vernachlässigung?
Weigel: Es müsste die Bundes- und Landesregierungen in Alarmstimmung versetzen, dass die Zufriedenheit der Menschen mit dem Schulsystem auf einen historischen Tiefstand angelangt ist. Ein Viertel vergibt die Note “ausreichend” oder schlechter, wie das aktuelle Bildungsbarometer des ifo-Instituts zeigt. Zahlreiche Studien, darunter das Greenpeace Nachhaltigkeitsbarometer, zeigen: Die Schüler:innen fühlen sich belastet und allein gelassen mit den großen Herausforderungen, es fehlen Freiräume und Mitgestaltungsmöglichkeiten, positive Szenarien und Veränderungspfade, die an Schulen entwickelt und eingeübt werden können. Von diesen Herausforderungen und sich verschärfenden Problemlagen ist das formale Bildungssystem, so wie es heute aufgestellt ist, völlig überfordert. Die Konsequenz: Lehrkräfte, Lernende und Eltern fühlen sich und sind von der Politik alleingelassen.
Greenpeace: Was muss sich ändern, damit das Bildungssystem gerechter, inklusiver und nachhaltiger wird?
Weigel: Bildung muss endlich Priorität sein auf der politischen Agenda. Nicht der der Ankündigungen, sondern der des Handelns. Die Lehrpläne müssen den aktuellen Herausforderungen angepasst werden – und Bildung für nachhaltige Entwicklung und Inklusion müssen die Leitperspektive sein, sich als DNA durch den Unterricht wie das Schulhaus ziehen. Die Schulen brauchen eine wesentlich bessere Ausstattung – das fängt bei der Modernisierung maroder Schulgebäude an, geht über die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften und Fachkräften bis hin zur wirklich umgesetzten Digitalität. Lehrkräfte und Lernende brauchen Freiräume, in denen team- und zukunftsorientiert gelernt und gearbeitet werden kann, in denen die Schule zum Reallabor der Nachhaltigkeit wird. Freiräume braucht es auch für Schulleitungen – und die Ermunterung zu einer “Kultur des Mutes”, um die für ihre Schule richtigen Schwerpunkte zu setzen, mutig neue Wege ausprobieren zu können.
Greenpeace: Schaffen die Schulen das denn allein?
Weigel: Nein, und das brauchen sie auch nicht. Vielerorts wird die “offene Schultür” von den zuständigen Schulbehörden immer noch kritisch gesehen, dabei braucht es genau das: die Einbettung in die Gesellschaft, Kooperationen mit außerschulischen Akteur:innen und Lernorten. Um das alles anzustoßen, müssen wir uns zusammensetzen, und zwar als Gesellschaft, das kann nicht hinter verschlossenen Türen verhandelt werden.
Greenpeace: Wie stellst du dir das konkret vor?
Weigel: Wir brauchen einen Bildungsgipfel auf Augenhöhe, mit Vertreter:innen aus der Zivilgesellschaft, der Bildungspraxis und den Spitzen der Politik auf Bundes- und Landesebene. Außerdem: Eine gerechte, inklusive und zukunftsfähige Bildung gibt es nicht zum Nulltarif. Man muss mehr Geld in die Hand nehmen, deutlich mehr als für andere Staatsausgaben, und dieses Geld klug investieren mit den richtigen Prioritäten. Diese Forderung findet übrigens bei einer großen Mehrheit – 74 Prozent – der Deutschen Zustimmung.
Greenpeace: Können wir den Weg aus der Bildungskrise finden?
Stephanie Weigel: Ja, das ist zu schaffen, die Krise ist ja hausgemacht. Aber nicht im “Weiter-so-Modus”. Die nötigen Weichenstellungen für das Bildungssystem dürfen nicht weiter zerrieben werden zwischen parteipolitischer Profilierung, Konkurrenzen in den Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. Das hat zu einer Kultur der organisierten Unverantwortlichkeit geführt und ist weiterhin der Nährboden dieser Krise. Wir vermissen den ernsthaften politischen Gestaltungswillen und die Offenheit, die zahlreichen Befunde der Sozialwissenschaften und Studien ernst zu nehmen, um daraus die nötigen – und machbaren! – Konsequenzen abzuleiten. Die Lehrer:innen, Schüler:innen und Schulleitungen müssen gehört und mitgenommen werden – sie alle haben keine Stimme in der Kultusministerkonferenz.
Greenpeace: Wie können wir alle den Protest und die Forderungen unterstützen?
Stephanie Weigel: Wir können als Einzelne, aber auch zusammen viel bewegen. Als Eltern können wir uns engagieren, die Schulen unserer Kinder täglich mitzugestalten. Gerade jetzt ist ein guter Moment, gemeinsam für Bewegung zu sorgen: Am 23.09.2023 finden in allen Bundesländern unter der Überschrift “Bildungswende JETZT!” Demonstrationen für ein besseres Bildungssystem statt. Über 170 Organisationen haben sich dem Aufruf bereits angeschlossen. So etwas gab es schon lange nicht mehr, das ist eine große Chance! Damit sich wirklich etwas bewegt, müssen wir viele sein und zusammen laut werde die Petition unterzeichnen, am 23.09. mit auf die Straße gehen und diesen Aufruf in die Breite tragen: Freundeskreis, Lehrkräfte und Schulen im eigenen Umfeld informieren, die eigenen Netzwerke aktivieren.